Zur nachrevolutionären Entwicklung Irans Herrschaftsverhältnisse:

Die Entstehung und Veralltäglichung einer charismatischen Herrschaft

 

Zusammenfassung

 

In diesem Beitrag werden jene Aspekte der nachrevolutionären Entwicklung der Herrschaftsverhältnisse Irans diskutiert, die sich auf die Veränderung der Legitimationsgrundlage und der Organisationsform der Herrschaft beziehen. In diesem Sinne wird diese Entwicklung als Entstehung eines charismatischen Aufstiegstyps der Herrschaft verstanden, dessen Veralltäglichungsform als ein Erhaltungstyp der Herrschaft sich aus einer permanenten Verschiebung der instabilen Balance ihrer immanenten Traditionalisierungs- und Legalisierungstendenzen ergibt. Diese Balance scheint sich seit den letzten Wahlen zugunsten der letzteren zu verschieben. Entstanden aus Umschichtungsprozessen innerhalb des weiteren Herrschaftsfeldes ist Aufbau und Schicksal dieser Herrschaft weiterhin davon abhängig, wie sich das Verhältnis von Einherrscher, elitären Kerngruppen und weiterem Herrschaftsbereich verändert. Die bisherige Veränderung der Formationen dieser Kerngruppen der Herrschaft, sowie die entsprechende Verschiebung der Machtbalance zwischen den Regierenden und den Regierten weisen auf diese gerichtete, aber reversible Verschiebung der Balance zwischen der autoritär-theokratischen und der republikanischen Komponente der Verfassungsnorm und -wirklichkeit. Die Richtung dieser Balanceverschiebung zugunsten institutioneller Ent-Demokratisierung oder Demokratisierung des Staates wird allerdings als Balanceverschiebung zwischen mehr oder weniger “traditionell” oder “modern” geprägten und dementsprechend “traditional” oder “legal” orientierten Menschen wahrnehmbar. Diese Balance ist aber selbst Folge der Struktur und Dynamik der Transformation der Erfahrung der involvierten Menschen, die sie in ihren unterschiedlichen sozialen Positionen in Zusammenhang mit der Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Machtbalanace machen. Die beobachtbaren Machtkämpfe wären daher sinnvoll nur im Zusammenhang mit der Erfahrungsdimension sozialer Prozesse zu deuten, war doch die vorrevolutionäre Art und Grad der Transformation der Erfahrung der involvierten Menschen ebenfalls verantwortlich für die Entstehung der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse.

 

Vorbemerkung


In diesem Beitrag möchte ich einige Aspekte der nachrevolutionären Entwicklung der Herrschaftsverhältnisse Irans diskutieren. Um die chaotisch erscheinenden Ereignisse miteinander zu verknüpfen und ein realitätsangemessenes Bild ihrer Ordnung zu bekommen, ist man bei jeder empirischen Untersuchung auf ein nachpüfbares und im Zusammenhang mit dem Erwerb neuen Einzelwissens revidierbares Modell des Zusammenhanges der Ereignisse angewiesen. Ohne solch ein zusammenfassendes Modell der Ereignisse, das determinierende Bedeutung bei der Stellung und Auswahl von Problemen hat, wäre selbst die Wahrnehmung der Ereignisse gar nicht möglich. Angewiesen auf solch ein Verknüpfungsmodell, erwiesen sich die beobachtbaren Ereignisse als ein ausgezeichnetes Exemplar des von Max Weber entwickelten charismatischen Typs der Herrschaft und dessen Veralltäglichung[1]. Allerdings dürfte sein theoretisches Modell nur dann sinnvoll für die Konzeptualisierung der möglichen Richtungen der Veralltäglichung des charismatischen Typs der Herrschaft angemessen herangezogen werden können, wenn man seine polar konzipierten idealtypischen Begriffe der “traditionalen” und “legalen” Herrschaft als Balance-Begriffe auffaßt, die sich auf gerichtete und reversible soziale Prozesse beziehen. Als Richtungsbegriffe verweisen sie auf gegensätzliche und umkehrbare Entwicklungstendenzen eines charismatischen Typs der Herrschaft. Nur in diesem dynamisierten Sinne kann man die zwanzigjährige Entwicklung Irans als Entstehung eines charismatischen Aufstiegstyps der Herrschaft begreifen, dessen Veralltäglichungsform sich als ein Erhaltungstyp der Herrschaft zumindest seit den letzten Präsidentschafts- und Kommunalwahlen sichtbarer als zuvor aus einer permanenten Verschiebung der instabilen Balance ihrer immanenten Traditionalisierungs- und Legalisierungstendenzen ergibt. Diese Balance scheint sich seit diesen Wahlen zugunsten der letzteren zu verschieben.

 

Entstanden aus Umschichtungsprozessen innerhalb des weiteren Herrschaftsfeldes[2], ist Aufbau und Schicksal dieser charismatischen Herrschaft mit ihrem “außeralltäglichen Charakter”[3] davon abhängig, wie sich das Verhältnis von Einherrscher, elitären Kerngruppen und weiterem Herrschaftsbereich verändert. Gab die Transformation der vorrevolutionären Spannungsbalance innerhalb des weiteren Herrschaftsfeldes Khomeini, der dann als Träger des Charisma[4] erschien, die entscheidende Aufstiegschance, schaffte sie zugleich in den Menschen, welche dann zu den charismatischen Kerngruppen gehörten, die Bereitschaft, Mitglieder solcher Gruppen zu werden. So wurde Aj. Khomeini praktisch der Exekutor dieser tiefgreifenden gesellschaftlichen Umschichtung, den als charismatischen Herrschaftsträger diese Kerngruppen umgaben, durch deren Vermittlung er herrschen konnte.

 

Hier wird dargestellt, wie die veränderten Formationen dieser Kerngruppen der Herrschaft in ihrem sozialen Aufstieg,[5] sowie die entsprechende Verschiebung der Machtbalance zwischen den Regierenden und den Regierten als eine Verschiebung der Spannungsbalance innerhalb der entstandenen Autoritätsverhältnise richtungsweisend für die politische Gesamtentwicklung waren. Ablesen läßt sich dieser Prozeß an einer höchst instabilen, aber gerichteten Verschiebung der Balance zwischen autoritär-theokratischen und republikanischen Komponenten der Verfassungsnorm und der Verfassungswirklichkeit. Die Richtung dieser Balanceverschiebung zugunsten institutioneller Ent-Demokratisierung oder Demokratisierung des Staates wird allerdings als Balanceverschiebung zwischen mehr oder weniger “traditionell” oder “modern” geprägten und dementsprechend “traditional” oder “legal” orientierten Menschen wahrnehmbar. Diese Balance ist aber selbst Folge der Art und Grad der Transformation der Erfahrung der involvierten Menschen, die sie in ihren unterschiedlichen sozialen Positionen im Zusammenhang mit der Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Machtbalance machen. Die Entwicklung der Sebstwertbeziehungen[6] und die nachhinkende Transformation der Selbsterfahrung der überwiegenden Mehrheit der Sozialaufsteiger hinter der sozialen Transformation war auch wesentlich verantwortlich für die Entstehung der charismatischen Herrschaft Aj. Khomeinis. Er verkörperte den gekränkten Stolz der von ihm als “mostazafin” glorifizierten Mehrheit der Gesellschaft, der von den vorrevolutionären Etablierten als “rückständig” (“ommol” und “dahatie”) stigmatisierten Außenseiter.[7] Der nachrevolutionäre Gang der Ereignisse erhält daher für diese Menschen weiterhin Bedeutung und Sinn durch seine Funktion der Erhöhung oder Erniedrigung in ihrem jeweiligen Schema von Selbstwerten. Somit sind die beobachtbaren politischen Prozesse in Zusammenhan mit der Erfaharungsdimension sozialer Prozesse zu verstehen, deren Richtung sich aus dem Ausgang der damit verbundenen sozialen und psychischen Spannungen und Konflikten ergibt.

 

1. Zur Entstehung der charismatischen Führerschaft Aj. Khomeinis als eines Aufstiegstyps der Herrschaft.

 

Die siegreiche Revolution entstand als Folge der Verschiebung der Machtbalance zwischen den Etablierten und den Außenseitern zugunsten der letzteren. Sie war also Folge einer funktionalen Demokratisierung der iranischen Gesellschaft, ohne unmittelbar zu einer institutionellen Demokratisierung der Gesellschaft zu führen. Will man jedoch die nachrevolutionäre Entwicklung begreifen, müßte man sich daher zunächst die Frage stellen, warum die revolutionär eroberte Macht durch die Regierten freiwillig an eine religiöse Elite ausgehändigt wurde, die mit Aj. Khomeini an deren Spitze diese Menschen explizit als unmündig erklärte und seit ihrer Dominanz jede institutionelle Demokratisierung der nachrevolutionären Herrschaft als unislamisch verteufelt. Die Etablierung der Herrschaft dieser geistlichen Aristokratie ging nicht nur mit der physischen Eliminierung aller konkurrierenden nicht-khomeinistisch orientierten Gruppen und der khomeinistischen Prägung der Verfassung einher, sondern auch mit einer Islamisierung des Alltagslebens unter Aj. Khomeinis Führung. Die Erklärung dieser Prozesse trägt nicht minder bei zum Verständnis des Entstehungszusammenhanges der charismatischen Herrschaft Aj. Khomeinis und der Islamischen Republik.

 

1.1. ) Die nachrevolutionäre Islamisierung des Alltagslebens als eine staatliche und staatlich sanktionierte öffentliche Moralkontrolle.  

 

Schon bei seiner Rückkehr nach Qom kündigte Aj. Khomeini am 7. März 1979 in einer Rede die Bildung eines Ministeriums an, dessen Hauptaufgabe in "al-amr b´ il ma´ruf wa nahi àn al-munkar" bestehen sollte, d.h., das Gute (von der Religion Gebotene) zu fördern und das Schlechte (von der Religion Verbotene) zu verbieten[8]. In dieser Ankündigung Aj. Khomeinis kann man das Bedürfnis nach einer Wiedereinführung der institutionalisierten Fremdsteuerung des Alltagsverhaltens als einen der wesentlichen Aspekte des Entstehungszusammenhangs der Islamischen Revolution und der ihr folgenden Islamischen Republik identifizieren.

 

Eine Institution mit solch einer Aufgabe wurde schon Anfang des 20. Jhs. mit der Verwaltungsreform abgeschafft, nachdem sie sich schon vor allem im 19. Jh. weitgehend modifiziert hatte. Diese Aufgabe war schon vor der Islamisierung Irans mit dem Amt des Mohtaseb verbunden, dessen Schwerpunkt sich, bis zu seiner endgültigen Entfunktionalisierung, im Laufe der Jahrhunderte wandelte.[9] Die Überwachung der Märkte und der Angemessenheit von Maßen und Gewichten auf dem Basar gehörten genauso zu seinen konstanten Aufgaben wie die der moralischen Angemessenheit des Alltagsvehaltens der Untertanen. Was sich an dieser Kontrollaufgabe im Laufe der Entwicklung änderte, waren die moralischen Maßstäbe, an denen sich der Mohtaseb, der öffentliche Überwacher der Standards, orientierte. Mit der Islamisierung Irans orientierte er sich an dem dominant gewordenen arabisch-islamischen Zivilisationsmuster, ohne daß sich seit der Safaviden-Herrschaft und der Erhebung der Zwölfer-Schi'a zur iranischen Staatsreligion seit 1502 etwas daran geändert hätte.

 

Verwechselt man die Funktion der öffentlichen Kontrolle der Moral mit den sich entsprechend der Machtbalance verändernden Funktionsträgern, die sich ohnehin an einem religiös geprägten Zivilisationsmuster orientierten, neigt man dazu, die Errichtung eines neuen Ministeriums, dessen Aufgabe in "al-amr b´ il ma´ruf wa nahi àn al-munkar" besteht, nicht mit dem alten Amt des Mohtaseb gleichzusetzen. Demnach erscheint dies als ein erstmaliger Versuch, islamische Vorschriften unter dieser Perspektive zur Anwendung zu bringen. Folgte man dieser Darstellung, müßte man, mit Floor, eher von einem Bruch mit der Vergangenheit als von der Wiederbelebung einer alten Institution sprechen.[10] Eine solche Interpretation widerspricht nicht nur den historischen Fakten, sie verdunkelt auch das zentrale Motiv des “Fundamentalismus”: die Wiedereinführung der als islamisch identifizierten Zivilisationsmuster und einer entsprechenden öffentlichen Kontrolle des Alltagsverhaltens der Menschen als (Gottes) Untertanen.

 

Unmittelbar nach der Machtergreifung durch die vorläufige Revolutionsregierung Bazargans wurde daher das für Zensur, Propaganda und Tourismus verantwortliche vorrevolutionäre "Informationsministerium" in ein "nationales Erschad-Ministerium" umgewandelt; bis zu seiner späteren Umwandlung in das Ministerium für "ERSCHAD-E ESLAMIE", für die islamische Belehrung bzw. Führung, das diese Aufgabe der (öffentlichen und privaten) Kontrolle und Steuerung des Altagsverhaltens der Menschen übernahm, wurde "al-amr b' il ma' ruf wa nahi an al-munkar" den freiwilligen Moralhütern und Sittenwächtern überlassen, welche die von ihnen als islamisch definierten Verhaltensmuster im Alltag zu erzwingen versuchten. Die "Ummat-e Hisbollah" ist die aktualisierte Bezeichnung der nach Bedarf mobilisierbaren Mutatawwi´ (Glaubenskämpfer), die immer noch, neben gesetzlich geregelten Eingriffen, für die Einhaltung einer Moral sorgen, die keinen Unterschied zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre kennt.

 

Seit der Verabschiedung der 175 Grundsätze (asl /Usul) umfassenden Verfassung der Islamischen Republik, die wesentlich vom Verfassungentwurf des Revolutionsrates abweicht, ist diese Normüberwachungsfunktion durch Grundsatz 8 verfassungsmäßig verankert. Im Verfassungsentwurf fehlte sogar ein dem Grundsatz 8 analoger Grundsatz, der die Verpflichtung der Bürger und des Staates zum "Gebieten des Guten und Verbieten des Verwerflichen" thematisiert[11]; dieser Grundsatz wird ausdrücklich zurückgeführt auf Vers 9/71 des Koran: "Und die Gläubigen Männer und Frauen sind untereinander Freunde. Sie gebieten, was recht ist und verbieten, was verwerflich ist".

 

Was an dieser Wiedereinführung der seit über einem Jahrhundert verschwundenen Institution einer öffentlichen Verhaltenssteurung so bemerkenswert ist, ist nicht so sehr die personelle Besetzung der Position des Norm-Überwachers durch die Geistlichkeit. Bemerkenswert ist die postrevolutionäre Einführung einer institutionalisierten Form der Fremdsteuerung, die in diesem Ausmaß eine der zentralen Eigentümlichkeiten einer archaischen Form der Herrschaft ist. Dieser charakteristischen Eigentümlichkeit einer vormodernen Herrschaft ist es zu verdanken, daß eine direkte Verbindung zwischen dem byzantinischen Agronomos und dem Islamischen Mohtaseb festgestellt werden kann. Was den scheinbaren Bruch des nachrevolutionären Iran mit der islamischen Vergangenheit ausmacht, ist die in diesem Ausmaß gestiegene Chance der Geistlichkeit, dieses Amt zu monopolisieren, nicht aber die mit dieser Position verbundene moralische Kontrollfunktion, wenn sie auch nicht immer als die Hauptaufgabe vom Mohtaseb betrachtet wurde.

 

Als institutionalisierte Form der Fremdsteuerung individuellen Verhaltens ist daher das Amt des Mohtaseb symptomatisch für eine Gesellschaft von Menschen, deren Persönlichkeit auf ein Übermaß von Fremdzwängen ausgericht ist. Der Mohtaseb als personifizierte, externalisierte Kontrollinstanz und als solche eine Art Gewissensteilersatz, ist also konstitutiv für eine Gesellschaft, in der die Balance zwischen Selbst- und Fremdbestimmung der Einzelnen zugunsten der Fremdbestimmung funktioniert - in Gestalt einer personifizierten, religiös begründeten Obligation der Moral.

 

1.2. Der Khomeinismus als eine Durchsetzungsform moralischer Normen

 

Der Khomeinismus begreift die Shari´a als göttliche und als solche ewig gültige Verhaltensnormen. "Nach dem Koran sind die Gesetze des Islam nicht an Zeit und Ort gebunden. Sie sind ewig gültig, und ihre Anwendung ist immer Pflicht."[12] Sie ist allumfassend und regelt das Leben der Menschen von der Geburt bis zum Tod: "Für alle Angelegenheiten hat der Islam Gesetze und Vorschriften. Er hat für den Menschen Gesetze verkündet, die sein ganzes Leben, vom Embryonalstadium bis zum Begräbnis, umfassen."[13] 

 

Für die Khomeinisten selbst liegt die Geltung der islamischen Moral in ihrem Inhalt als göttliche Offenbarung, wie sie im Koran und im Hadis (Überlieferungen) festgehalten worden ist: "Der Koran und der Hadis, die als Quelle der Grundsätze und Vorschriften des Islam gelten, unterscheiden sich auf Grund ihres umfassenden Charakters und ihrer Wirkung auf das gesellschaftliche Leben prinzipiell von den Traktaten zu praktischen Handlungen, die von Modgtahedin-e Asr und Maradge (Rechtsgelehrten und Vorbilder, DG) verfaßt werden.(...) Von allen Büchern des Hadis, der alle islamischen Gesetze umfaßt, haben nur drei oder vier gottesdienstliche Handlungen und die Pflichten des Menschen gegenüber Gott - wovon ein Teil mit Fragen der Ethik zusammenhängen - zum Inhalt, die anderen beschäftigen sich mit sozialen, ökonomischen, juristischen, politischen und staatlichen Angelegenheiten."[14]

 

Da sich jedoch nicht alle Menschen an diese ewig gültigen Grundsätze orientieren, sehen die Khomeinisten die verbindende Kraft der Shari´a, ihre Kraft, mit der sie sich in der Gesellschaft durchsetzt bzw. behauptet, sich Geltung verschafft, also obligatorisch wird, in der Gründung eines Islamischen Staates: "Um Anarchie und (moralische) Verkommenheit in der Gesellschaft zu verhindern, gibt es nur ein Mittel: die Gründung eines Staates und die Regelung aller Angelegenheiten des Landes."[15]

 

Nicht jeder sich selbst als islamisch begreifende Staat wird hier als islamisch verstanden, sondern derjenige, an dessen Spitze “der gerechte Rechtsgelehrte” als einziger legitimer Nachfolger des Propheten und der reinen Imame und damit als Garant der Geltung dieser göttlichen Offenbarung regiert. Gemeint ist die Schriftgelehrtenherrschaft als die einzige Form der Wiederherstellung der "Einheit von Religion und Politik": "In dem Vers ‘O ihr, die ihr glaubt, gehorchet Allah und gehorchet dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben‘ wird Gehorsam gegenüber ‘denen, die Befehl unter euch haben’ als Pflicht dargestellt. Nach dem hochedlen Propheten -G- sind diejenigen, die Befehl unter uns haben, die reinen Imame, denen gleichzeitig mehrere Aufgaben und Ämter obliegen. Erstens geht es darum, dem Volk die islamischen Ideen, Gesetze und Vorschriften zu erläutern und darzulegen. Das ist nicht anderes als die Erläuterung und Auslegung des Koran und der Sunna. Die zweite Aufgabe ist die Durchführung der Gesetze und die Schaffung islamischer Institutionen in der Gesellschaft der Muslime sowie die Verbreitung der islamischen Ideen und Vorschriften unter anderen Völkern der Welt. NACH DEN IMAMEN ÜBERNEHMEN DIE GERECHTEN FOGHAHA (Rechtsgelehrten, D.G.)DIESE AUFGABE."[16]

 

Vertröstete die etablierte Geistlichkeit, entsprechend dem quietistischen schi’itischen Chiliasmus, die Menschen auf die Wiederkehr des 12. entrückten Imam der Schi´iten, der am Ende der Zeit als Imam Mahdi, als Welterlöser erscheinen wird, um die Welt von allem Unrecht zu befreien und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufzurichten, lehnte Khomeini ein weiteres Warten als unislamisch ab und propagierte einen aktivistischen schi’itischen Chiliasmus: "Seit Beginn der kleinen Verborgenheit sind tausend und einige hundert Jahre vergangen. Es besteht die Möglichkeit, daß hunderttausend Jahre vergehen und seine Heiligkeit noch nicht zurückkehrt. Sollen die Gesetze des Islam für lange Zeit nicht angewandt werden? Darf jeder tun, was er will? Darf ein Chaos entstehen? Waren die Gesetze, deren Darlegung, Propagierung, Verbreitung und Durchsetzung den Propheten dreiundzwanzig Jahre harte Arbeit kosteten, nur für eine begrenzte Zeit gedacht? Hatte Gott die Zeit der Anwendung seiner Gesetze auf zweihundert Jahre beschränkt? Und hat der Islam nach dem Beginn der kleinen Verborgenheit auf alle seine Prinzipien verzichtet?"[17]

 

Das Ziel solch einer Schriftgelehrtenherrschaft, als Durchsetzungsform moralischer Normen, ist,   "(...) den Menschen zu erziehen, einen vollkommenen und gebildeten Menschen, der die lebendige Verkörperung des Gesetzes ist und die Gesetze freiwillig und selbsttätig verwirklicht."[18] Diesem Uniformierungswunsch sozialen Verhaltens, der den Menschen über das "Böse" hinweg zum "Guten" verhelfen soll, muß aber durch Mechanismen verwirklicht werden, die alle als islamisch definierten Normen um jeden Preis durchsetzen und der entsprechenden Moral absolute Geltung verschaffen. Diesem Wunsch liegt ein Menschenbild zugrunde, das als Bild der ewig unmündigen Menschen als Individuen und als Gesellschaft diese Durchsetzungsform der Moral zu einer unabdingbaren Notwendigkeit macht: "Die Statthalterschaft des Faghih (Rechtsgelehrten) ist eine relative Angelegenheit, sie wird durch Ernennung übertragen, ein Akt, der vergleichbar ist mit der Ernennung eines Vormundes für Minderjährige. Vom Standpunkt der Aufgabe und der Stellung besteht kein Unterschied zwischen dem Vormund der Nation und einem Vormund für Minderjährige." [19]

 

Bei diesem Mangel eines individuellen Rechts- und Moralsubjektes wäre in einer Gesellschaft, in welcher der Imam als gesellschaftliche Zentralinstanz gilt, die Schriftgelehrtenherrschaft die Herrschaft eines göttlich bestimmten Vormundes, der Hüter von Ordnung und Gesetze des Islam ist und als solche ewig[20], weil die Menschen unvollkommen sind und der Vollkommenheit bedürfen[21]. Sie ist eine ewig äußerlich notwendige Durchsetzungsform des Normbewußtseins, weil sich diese Moral mehr als Moral des Wissens der Rechtsgelehrten als "Quellen der Nachahmung" bzw. "Vorbilder" etabliert denn als Gewissensmoral der Gläubiger: "Da die islamische Regierung die Regierung des Gesetzes ist, müssen Kenner der Gesetze und vor allem die Theologen die Führung des Staates übernehmen."[22] In diesem Sinne "(...) verkörpern die Schriftgelehrten das Gesetz" und "(...) das Volk und die Muslime sind im Rahmen der religiösen Vorschriften frei, d.h., wenn sie sich an die Vorschriften des Islams halten, darf sie niemand belästigen."[23]

 

1.3. Zur Entstehung der sozialen Basis des Khomeinismus als Folge der Integratiosspannungen der von der Modernisierung erfaßten Menschen

 

Angesichts der Wahrnehmung solcher externen Regulationen des Verhaltens als “Islam” und in einer Zeit, in der - nach dem Zerfall des Kommunismus - ein Bedürfnis nach neuen Feindbildern in den entwickelteren Gesellschaften aufkommt, wird undifferenziert eine Entwicklungsform des normativen Bildes, das eine bestimmte Gruppe von Menschen von der sozialen Welt hat, eine bestimmte Entwicklungsform der normativen Gesamtvision, eine gruppenspezifische Entwicklungsform der integrierenden Gesamtvorstellung von Menschen als Individuen und als Gesellschaften mit "dem" Islam identifiziert. Ohne den Islam als ein erinnertes Wandlungskontinuum[24] zu begreifen, entstehen folglich je nach den eigenen Präferenzen gegenüber dem Islam extreme islamfreundliche und islamfeindliche Positionen, die entweder dem ‘Islam als eine Offenbarungsreligion und ihrer großartigen Zivilisation’ gegenüber dem ‘totalitären Fundamentalismus als Feind von Demokratie und Menschenrechte’[25] das Wort reden oder überhaupt diese Unterscheidung ablehnen und den Islam als ‘eine menschenverachtende Religion’ verdammen. Letztere machen sich unbeabsichtigt die fundamentalistischen Positionen der islamischen Geistlichkeit zu eigen und erklären: ‘Der Islam ist mit den gewachsenen Werten und Tugenden der westlichen Demokratien unvereinbar.’[26].

 

Diese extremen Positionen gegenüber dem zivilisatorischen und demokratischen Charakter des Islam berücksichtigen nicht, daß eigentlich nicht nur der Inhalt der moralischen Normen allein, sondern auch ihre Durchsetzungsform als wesentliches Unterscheidungskriterum der verschiedenen Gesellschaften, sowie ihrer zivilisatorischen Entwicklungsstufen herangezogen werden muß. Ungeachtet dieser dualistischen Positionen wird in der Realität der islamisch geprägten Gesellschaften wie im Iran auf die Frage, wie sich Normbewußtsein individuell verankert, unterschiedlich   geantwortet; die unterschiedlichen Antworten auf die Frage, auf welche Weise die "islamischen" Gesellschaften in ihren Mitgliedern "islamische" Normen als Richtschnur des Handelns der Einzelnen verankern, konstituieren die unterschiedlichsten Strömungen der islamisch orientierten sozialen Bewegungen, die als Träger der "Re-Islamisierung " bekannt sind. Die Khomeinisten, die jedes abweichende Verhalten als Anarchie und Verkommenheit fürchten, betrachten den Fremdzwang als das geeigneteste Regulationsmittel des sozialen Verhaltens: "Dabei ist das islamische Strafrecht geschaffen worden, um zu verhindern, daß in einer großen Nation verderbte Sitten um sich greifen."[27]

 

Diese unterschiedlichen Vorstellungen über die Art der Konstitution normativen Bewußtseins unterschied nicht nur den vorrevolutionären etablierten quietistischen schi´itischen Chiliasmus von dem aktivistischen unter Aj. Khomeinis Führung, der die Muslime durch eine außergewöhnliche Interpretation der schi´itischen Eschatologie zur revolutionären Tat mobilisierte. Auch die nachrevolutionäre Spaltung der revolutionären islamischen Koalition ist genauso den unterschiedlichen Vorstellungen vom Islam als unterschiedlichen Vorstellungen über die angemessene Balance zwischen Selbst- und Fremdsteuerung der Menschen zu verdanken, wie die ihr folgenden Ausscheidungskämpfe, die "politisch" über die Etablierung unterschiedlich verfaßter Republiken ausbrachen und ausgetragen wurden.

 

Als im Iran der zum Referendum stehende Name der neuen Republik zur Diskussion stand, sprach sich Aj Khomeini eindeutig für "Islamische Republik" aus. Er erklärte: "Ich stimme für ``Islamische Republik´´, nicht ein Wort mehr, nicht ein Wort weniger." Und: "Jeder, der sich für ´´Republik`` (ohne den Zusatz ``islamisch´´) entscheidet, ist ein Feind des Islam. Jeder, der (dem Begriff ) ´´Islamische Republik`` den Begriff ´´demokratisch`` hinzufügt, ist ein Feind des Islam . ..Er will nicht den Islam. Wir aber wollen den Islam."[28] Die überwältigende Mehrheit des iranischen Volkes (98,2%) folgte Aj. Khomeini in diesem Sinne nicht wegen einer "Desinformation vor dem ersten Volksentscheid"[29]. Eine solche Interpretation der Ereignisse entspricht zwar der nachträglichen Entschuldigung vieler enttäuschter Menschen; sie erklärt aber keineswegs die Entstehung der Islamischen Republik als eines charismatischen Typs der Herrschaft. Sie vernachlässigt die unterschiedliche normative Bewußtseinsverfassung und das damit verbundene Verfassungsbewußtsein der Anhänger von Aj. Khomeini und ist daher nur möglich, wenn man den eigenen Bewußtseinsaufbau und die eigenen Denkformen selbstverständlich auf die sozialen Träger des Khomeinismus als eigene Untersuchungsobjekte überträgt und folglich das einem selbst vertraute Verfassungsbewußsein und die entsprechende normative Bewußtseinsverfassung als universell unterstellt. In der Tat waren, abgesehen von einer kleinen Anzahl von Iranern, die meisten Unterstützer der Staatskonzeption Khomeinis nicht informiert über die Struktur solch einer Herrschaftsform; eine Feststellung, die selbst erklärungsbedürftig ist. Zu erklären wäre also, warum die Menschen trotz mangelnder Information über die Gestalt der Islamischen Republik Aj. Khomeini folgten. Verständlich wird dieses Wahlverhalten nur, wenn man die narzißtischen Verschmelzungsphantasien der auf einen charismatischen Führer orientierten Massenindividuen berücksichtigt.[30] Diese Individuen ersetzten ihr eigenes Ich-Ideal durch den charismatischen Führer und schufen die Islamische Republik, indem sie sich über ihn miteinander identifizieren und ihre Massenbasis bildeten.

 

In der Tat entstand die Massenbasis des Khomeinismus in Folge einer mit der Modernisierung einhergehenden funktionalen Demokratisierung der Gesellschaft und der Erfahrung der neuen eigenen Machgewichte seitens der in "Bürger" transformierten vormodernenen Untertanen, die aus ihrer persistierenden "symbiotischen Identität” heraus sich für die "Islamische Republik" entschieden, deren Verfassung erheblich von dem ebenfalls islamisch geprägten demokratischeren Verfassungsentwurf des Revolutionsrates abwich. Mit ihrer Moralbestimmung, die keine Unterscheidung zwischen Moral, Recht und Religion kennt, attackierte ihre Bewegung als ein zivilisatorischer Gegenschub[31] in Gestalt der Ritualisierung der Politik die moralische Entwicklung der Gesellschaft in Richtung auf eine "gewissensethische Moralbestimmung"; letztere war mit der Modernisierung der Gesellschaft im Entstehen begriffen und zwar als Folge der allmählichen Differenzierung der Moral von Recht und von der Religion; eine Entwicklung, die mit der Funktionsreduktion der Geistlichkeit als sozialer Personalunion dieser Funktionen einherging. Diese Entwicklung entfesselte eine chiliastisch geprägte nativistische Bewegung von Menschen[32], die sich aus den Spannungen zwischen archaisch-islamischen und modernen Wirkungszusammenhängen und Durchsetzungsformen der Moral speiste, welche sich aus den – sich durch die “Modernisierung” der Gesellschaft verstärkten – Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung ergaben. Die unterschiedliche Geschwindigkeit und Intensität ihrer individuellen Modernisierung im Sinne der Transformation ihrer sozialen Persönlichkeitsstruktur führte zu sozialen Konflikten zwischen den Menschen, die nicht nur über jeweils unterschiedliche Machtchancen verfügten, sondern auch mehr oder weniger diese historisch verschiedenen Obligationstypen bzw. Realisierungsmöglichkeiten normativer Verbindlichkeiten repräsentierten. In ihren Selbtswertbeziehungen verstrickt, stigmatisierten sich diese vorrevolutionären machtstärkeren und machtschwächeren sozialen Gruppen gegenseitigen als “Reaktionäre” und “Verwestlichte”. Aus diesem Abwehrkampf heraus und getragen von der Angst, endgültig unterzugehen, entstand die nativistische Bewegung der machtschwächeren Menschen, die den Islam – wie sie ihn jeweils verstanden – als symbolischen Repräsentanten ihrer als eigen definierten Werte demonstrativ hervorhoben. Verstärkt wurde der Impetus solch einer nativistischen Bewegung als Folge einer, mit der Landreform einhergehenden, massiven sozialen Differenzierung der Gesellschaft. Sie ging einher mit der Desintegration vormoderner Integrationseinheiten, d.h. der über fünfzigtausend weit verstreuten Dörfer, und damit zunächst mit einer Entwicklung der Gesellschaft von einer enger integrierten Gruppe zu einer lockerer integrierten. Solch eine Entwicklung kann von den betroffenen Menschen als ein moralisches Chaos erfahren werden. Diese quasi-apokalyptische Erfahrung einer anomischen Phase der Gesellschaft schafft jene allgemeine Stimmungslage, in der die apokalyptische Weltabgeschiedenheit eines quietistischen Chiliasmus der Mehrheit der Menschen in einen chiliastischen Aktivismus umschlägt und den Fundamentalismus und den ihn vertretenden charismatischen Führer hervorbringt.

 

Als eine Art Integrierungskonflikt bzw. Integrierungsspannung der Menschen, deren Persönlichkeitsstruktur sich mehr oder weniger langsamer wandelte als die Gesellschaftsstruktur, führte solch eine soziale Bewegung, als Nackhinkeffekt des sozialen Habitus der Mehrheit der Bürger, zur institutionellen Ent-Demokratisierung der sozialen Kontrolle und verleitete die außenstehenden Beobachter zu Fehlurteilen über den Islam als scheinbar unwandelbare Erscheinung jenseits und unabhängig von den sich wandelnden Muslimen.

 

Diese voreiligen Schlußfolgerungen entstehen u.a. deswegen, weil nicht selten keine Unterschiede gemacht werden zwischen "latenter" bzw. "funktionaler" Demokratisierung, und "manifester" bzw. "institutioneller" Demokratisierung. Daraus folgt in der Regel eine Gleichstellung “der” Demokratie, die als statischer Zustandsbegriff einer parlamentarischen Parteiendemokratie verstanden wird, mit ihren symptomatischen Aspekten, um in einem Vergleich ihre Inkompatibilität mit "dem" Islam nachzuweisen.[33]

 

1.4. Khomeinismus als ein Nackhinkeffekt des sozialen Habitus ist Folge der Modernisierung.

 

Einer der zentralen Aspekte der Modernisierung ist eine soziale Differenzierung, die mit entsprechenden Desintegrationsprozessen und sozialen Auf- und Abstiegsprozessen einhergeht. Diesen langfristigen Trend in Richtung auf größere Differenzierung aller gesellschaftlichen Funktionen, die sich u.a. durch die Zunahme spezialisierter Tätigkeiten anzeigt, beobachtet man nicht nur in den weniger entwickelten Gesellschaften. Was diesen Prozeß gegenwärtig besonders in diesen Gesellschaften auszeichnet, ist der massive Schub dieser Spezialisierung gesellschaftlicher Tätigkeiten, die als zunehmende gesellschaftliche Arbeitsteilung gemeinhin bekannt ist. Dieser Schub ist u.a. statistisch anhand der zunehmenden Zahl der Berufe feststellbar.

 

Vergleichen wir die ältesten und als solche die einzigen überhaupt für den Iran verfügbaren Zahlen der statistisch erfaßten Berufe, die 1933 zum ersten Mal nur für Teheran erhoben wurden, mit der entsprechenden Anzahl der 1976 für den gesamten Iran gezählten Berufe, so können wir uns eine grobe Vorstellung von der beruflichen Spezialisierung in diesem Zeitraum machen. In dieser Periode stieg die Anzahl von 549 Berufe in der Hauptstadt mit den für das gesamte Land typischen agro-städtischen Merkmalen auf 1847 Berufe im ganzen Land. Das bedeutet, daß unmittelbar vor der Revolution die Anzahl der Berufe sich innerhalb von 43 Jahren fast vervierfacht hatte. Dieser Schub der beruflichen Spezialisierung verstärkte sich sogar seit Mitte der siebziger Jahre und setzte sich weiter massiv fort. Ihre Zahl stieg 1987 auf 4267 Berufe. Sie erhöhte sich innerhalb von 11 Jahren, d.h. gegenüber 1976, um das 2,3fache. Das zentrale statistische Amt Irans ergänzte sogar 1995 diese Zahl der feststellbaren Berufe um weitere 1013 gegenüber 1987. Damit stieg die Zahl der im Iran festgestellten Berufe allein zwischen 1976 und 1995 von 1847 auf 5280. Es entstanden also ca. 3 Mal mehr Berufe während der letzten 22 Jahre bis 1995. Innerhalb der letzten 62 Jahre verzehnfachte sich die Zahl der Berufe seit 1933. Diese quantitative Zunahme der beruflichen Spezialisierung insgesamt ist nicht nur Folge der neu entstandenen Berufe. Viele Beruf verloren bzw. verringerten auch ihre Funktion in derselben Zeitspanne. Nach der Revolution entstanden sogar viele inzwischen vergessene Berufe wie z.B. der Beruf der weiblichen und männlichen Sittenwächter erneut, während einige wie z.B. die Geistlichkeit eine Funktionserweiterung erfuhren.[34] Dieser Schub sozialer Differenzierung, der mit einer enormen jährlichen Zuwachsrate der Bevölkerung von durchschnittlich ca. 3% zur erheblichen Zunahme des Komplexitätsgrades der Gesellschaft führte, war eine Begleiterscheinung von Kommerzialisierungs-, Industrialisierungs- und Säkularisierugsprozessen einer sich verstaatlichenden Gesellschaft. Diese setzten als Funktion eines massiven Globalisierungsschubes vor allem seit dem zweiten Weltkrieg ein.[35]

 

Als Funktion der Kommerzialisierung (vor allem des Grund und Bodens im Zuge der Landreform seit Anfang der sechziger Jahre), der Industrialisierung (und der damit einhergehenden zunächst formellen Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital), sowie der Säkularisierung des Erziehungs- und Rechtswesens (die zur tendenziellen Entfunktionalisierung der Geistlichkeit als früherem Funktionsträger in diesen Bereichen führte) ging also eine soziale Differenzierung einher, die mit der Desintegration der agrarischen und tribalen Integrationsebenen nicht nur zu einem wahrnehmbaren Schub der Urbanisierung im Sinne einer Verdörflichung der Städte durch die Landflucht der bäuerlichen Masse und einer Hypertrophie des tertiären Sektors führte[36]; sie führte auch zu einer funktionalen Demokratisierung und einer, von den Betroffenen als moralisches Chaos wahrgenommenen, längeren anomischen Phase der Gesellschaft.

 

Im Laufe dieser Gesellschaftsentwicklung in Richtung einer zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der gesellschaftlichen Positionen und Funktionen veränderte sich nicht nur die Art und der Grad der Abhängigkeiten zwischen den Menschen (Aus den ehemaligen bäuerlichen Untertanen wurden z.B. entweder kleine Grundeigentümer, Tagelöhner, fliegende Händler oder aber auch Industriearbeiter, Handwerker usw.). Durch die fortschreitende Funktionsteilung wurden außerdem die Interdependenzketten, die Menschen aneinander binden, immer länger. Dadurch wurde der einzelne aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Funktionen zur Befriedigung existentieller Bedürfnisse auf immer mehr Menschen angewiesen (In unserem Falle stieg z.B. diese Zahl von 549 auf 5280 Funktionen). Die Veränderung der Abhängigkeiten in diese Richtung bedeutete eine Verringerung der Machtdifferentiale zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen der Gesellschaft, solange sie in den sich ständig wandelnden Funktionskreislauf dieser Gesellschaft miteinbezogen blieben. Mit dieser spezifischen Verlagerung der Machtgewichte veränderten sich daher nicht nur die Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, verschiedenen ethnischen und konfessionellen Gruppen,[37] sowie sonstigen sozialen Formationen. Auch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Regierten und Regierenden veränderten sich: Die Regierenden, jene Gruppe, die den Zugang zu den in der Gesellschaft vorhandenen Machtressourcen und die Verfügung über diese besaß, wurden immer abhängiger von den Außenseitergruppen, die vom Zugang zu diesen Machtchancen ausgeschlossen waren. Diese Veränderung der Machtstrukturen, diese funktionale bzw. latente Demokratisierung[38] im Sinne einer Verringerung der Machtdifferentiale zwischen Menschen in unterschiedlichen sozialen Positionen vollzog sich zwar real; sie wurde aber von den betroffenen Menschen nicht angemessen erfahren und konnte damit nicht zur entsprechenden Institutionalisierung dieser veränderten Machtbalance drängen. Damit begegnen wir einer Konstellation, in der die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in Richtung auf eine andere treibt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf jener früheren Stufe verharren[39]: Die gemeinsame gesellschaftliche Ausprägung ihres individuellen Verhaltens, ihrer Sprache und Denkweise, ihrer Gefühlslage und vor allem ihrer Gewissens- und Idealbildung - kurz: das Grundschema ihrer Persönlichkeit - veränderte sich im Vergleich zur relativ rapiden sozialen Differenzierung langsamer. Die Loyalitäts- sowie Generations- und geschlechtsspezifischen Konflikte waren als "Übergangskonflikte"[40] ebenso Ausdruck eines solchen Nachhinkens des sozialen Habitus wie sie sich in romantischen bzw. fundamentalistischen Bewegungen manifestierten. Vor allem die Vorstellung der sozial aufgestiegenen ehemaligen Untertanen im Modernisierungsprozeß von der moralischen Ordnung der Autorität, die sie als Folge einer relativ langsamen Veränderung ihres besonderen Glaubens an die Legitimität der Herrschaft mit sich trugen, erhob Aj. Khomeini zu seiner unanfechtbaren Führungsposition einer revolutionären Umwälzung, dessen Konzept der Rechtsgelehrtenherrschaft institutionell verankert wurde.

 

1.5.) Die verfassungsmäßige Verankerung der charismatischen Herrschaft Khomeinis als eine institutionelle Ent-Demokratisierung.

 

In der Tat führte die Institutionalisierung der charismatischen Führerschaft Khomeinis mit der revolutionären Ersetzung der “Konstitutionellen Monarchie” durch die “Islamische Republik” zu einer institutionellen Ent-Demokratisierung des iranischen Staates: Die Volkssouveränität (Art. 26 & 30 “Supplementary Constitutional Law of Oktober 8, 1907”, demnächst nur EVG) wurde durch Gottes Souveränität ersetzt, dem allein Herrschaft und Gesetzgebung zukomme (Art. 2, 56 der Verfassung der Islamischen Republik Iran, demnächst nur VIR), dessen Statthalter auf Erden nur ein Theologe sein darf, der als absoluter Herrscher Gottes Gesetze verkünden und sanktionieren darf (Art. 5, 57, 110 VIR). Entsprechend wurden selbst die gesetzlich eingeschränkten Menschen- und Grundrechte der vorrevolutionären Verfassung (Art. 15, 18, 20 EVG) durch die Pflichten der Menschen Gott gegenüber ersetzt, dem sich der Mensch bedingungslos zu unterwerfen habe (Art. 2 Abs. 6 VIR). Zudem wurde die Rechtsgleichheit der Menschen und ihre Gleichbehandlung vor dem Gesetz ( Art. 8 EVG) durch ihre Rechtsgleichheit als Gläubige ( Art. 19 VIR) und deren Gleichbehandlung vor der Schari’a (Art. 20 VIR) ersetzt, die als ein von der Geistlichkeit kontrolliertes Standardkontinuum Menschen von unterschiedlichem Rechtsstatus kennt: Gläubige Männer als Vollmitglieder der Gemeinschaft, Frauen (Art. 21 VIR) mit reduzierten Rechten und schließlich die Schutzbefohlenen Nichtmuslime (Art.13 VIR), sowie Apostaten wie z.B. Bahais. Mit der fundamentalen Rolle der göttlichen Offenbarung für die “Gesetzgebung”, die nur mit ausdrücklicher Zustimmung eines dem “Parlament” übergeordneten und von der Geistlichkeit dominierten “Wächterrats”(Art. 96 VIR) möglich ist, und der damit einhergehenden Monopolisierung der Definitionsmacht der Geistlichkeit für das, was göttliches Recht und Ordnung sei, wird nicht nur die Souveränität des Volkes in Abrede gestellt, durch dessen revolutionäre Gewalt solch eine Verfassung überhaupt möglich war. Mit dem in der Verfassung hervorgehobenen Glauben an das “Imamat und seine ständige, grundlegende und immer währende Führungsrolle im Fortbestand der Islamischen Revolution” (Art. 2, Abs. 5) wird die Ewigkeit des absoluten Machtanspruchs der Geistlichkeit in Gestalt des “Führers” (rahbar) als die höchste Autorität des Staates festgeschrieben, dem jeder Mensch für alle Zeiten zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet ist. Dieses Recht wird vom Anspruch des 12. Imams auf die Führung der islamischen Gemeinschaft abgeleitet. Die Verfassung entspricht in diesem Punkt der von Aj. Khomeini und anderen chiliastischen Aktivisten unter den Geistlichen vertretenen Ansicht, daß die Gläubigen unbedingt geleitet werden müssen, weil sie unmündig seien. Nach dieser fundamentalistischen Interpretation der schiitischen Staatslehre der klassischen Zeit steht die faktische politische Herrschaft - und die religiöse Leitung der Gemeinde - nur einem leiblichen Nachfahren des vom Propheten zum Imamat designierten Imam Ali zu. Da der zwölfte aus der genealogischen Kette der Imame, Muhammad al-Mahdi, 873 n. Ch. verschwand, riß die Reihe ab. Nach schiitischer Auffassung ist er nicht tot, sondern entrückt in der "großen Verborgenheit". Seine Wiederkehr wird erwartet; bis dahin obliegt die Führung der Gemeinde einem islamischen Theologen und Rechtsexperten (faqih). Diese Position bezieht nun auch Grundsatz 5 der Verfassung: "Während der Verborgenheit des Mahdi (Vali-ye asr) ...obliegt in der Islamischen Republik Iran der Führungsauftrag (valayat-e amr) und die Führungsbefugnis der Gemeinde (valayat-e ummat) einem Theologen (Faqih), der gut beleumdet (adel) und tugendhaft ist, die Erfordernisse der Zeit kennt, der mutig und zur Führung befähigt ist, sowie von der Mehrheit der Bevölkerung als islamischer Führer anerkannt und bestätigt wurde." Er wird gem. dem revidierten Grundsatz 5 der Verfassung durch einen “Expertenrat” gewählt, der nur aus ausgewiesenen hochrangigen Theologen besteht. Im Idealfall bleibt er ohne "demokratische Kontrolle" durch regelmäßige Wahlen lebenslänglich bzw. so lange im Amt, solange er (gem. Grundsatz 111) imstande ist, seine gesetzlichen Pflichten zu erfüllen bzw. die im Grundsatz 109 erwähnten Voraussetzungen erfüllt. Die Revision der Verfassung eliminierte sogar die ursprünglich vorgesehene Anerkennung der Mehrheit der Bevölkerung als eine der Legitimationsgrundlagen des “Führers”, wie diese praktisch durch die revolutionäre Erhebung Aj. Khomeinis zum unanfechtbaren Führer geschah. Mit ihrer Anerkennung wurde auch “die göttliche Souveränität”, vertreten durch den Führer, formell über die des Volkes gestellt. In dem Verfassungentwurf des Revolutionsrates war, angesichts der unmittelbaren Erfahrung der revolutionären Eroberung der Macht durch das Volk, mit der Betonung der republikanischen Komponenten die Balance zwischen Traditionalisierung und Legalisierung der Herrschaft zugunsten der letzteren verschoben worden. Die endgültige Verfassung jedoch verschob mit der verfassungsmäßigen Verankerung der charismatischen Führerschaft Aj. Khomeinis diese Balance zugunsten der Institutionalisierung der Herrschaft der Geistlichkeit als einer legitimen Rechtsnachfolge des Propheten und der unfehlbaren zwölf Imame, ohne die republikanischen Komponenten gänzlich eliminieren zu können.

 

2. Zur verfassungsmäßigen Verankerung der charismatischen Führerschaft Aj. Khomeinis als einer charismatischen Herrschaft und als Beginn ihrer Veralltäglichung

 

Mit dieser verfassungsmäßigen Verankerung der Führerposition wurde zunächst einmal die persönliche charismatische Führerschaft Aj. Khomeinis als seine charismatische Herrschaft institutionalisiert, während seine im Grundsatz 109 aufgezählten charismatischen Eigenschaften als übertragbar auf andere Großajatollahs als seine Nachfolger festgeschrieben wurden. Bereits mit der Transformation der revolutionären persönlichen charismatischen Führerschaft Aj. Khomeinis in seine charismatische Herrschaft der Islamischen Republik vollzieht sich eine Transformation der charismatischen Autorität. Nun braucht Aj. Khomeini als Führer nicht mehr seine Anhänger zur Gefolgschaft zu bitten. Mit seiner institutionalisierten Befehlsgewalt als Führer der Islamischen Republik kann er Gehorsam fordern. Seine Gefolgsleute verwandeln sich in diesem Prozeß zu seinen Untertanen, die ihm zwar möglicherweise deswegen immer noch folgen mögen, weil sie in ihm bestimmte charismatische Eigenschaften sehen; ihre Bereitschaft, seinem Befehl zu folgen, verwandelte sich jedoch in eine Gehorsamspflicht, der sie sich nicht mehr entziehen konnten ohne sich rechtswidrig zu verhalten. Ihre Gehorsamsverweigerung konnte nunmehr als “Rebellion gegen Gott” verfolgt und bestraft werden. Damit verwandelte sich der charismatische Aufstiegstyp der Herrschaft zugleich in einen Erhaltungstyp.

 

2.1. Zur Institutionalisierung der charismatischen Herrschaft als ihre Veralltäglichung im Sinne eines Amtscharisma der Geistlichkeit.

 

Die Nachfolgeregelung im Auge, erheben die Verfassungsväter im Grundsatz 107 die erlebten charismatischen Eigenschaften Aj. Khomeinis zu “Voraussetzungen und Eigenschaften des islamischen Führers bzw. der Mitglieder des Führungsrates” der Islamischen Republik: “1. Wissenschaftliche und den islamischen Tugenden entsprechende Fähigkeit zur Erteilung von Rechtsgutachten und die Kompetenz als islamische Autorität; 2. zur Führung ausreichend politische und gesellschaftliche Weitsicht, Tapferkeit, starke Persönlichkeit und Weisungsfähigkeit”. Damit wird die charismatische Herrschaft entpersonalisiert und als charismatische Herrschaft der Geistlichkeit in die Zukunft verlängert. In diesem Sinne verliert Charisma die Bedeutung einer außergewöhnlichen persönlichen Begabung. Mit dieser verfassungsmäßigen Übertragung der persönlichen charismatischen Eigenschaften Aj. Khomeinis auf seine Nachfolger transformiert sich seine persönliche charismatische Herrschaft zugleich in ein traditionell begründetes Amtscharisma der Geistlichkeit. Als Bedingung der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft wird so die charismatische Autorität der Geistlichkeit unantastbar, wie verkommen auch einzelne Geistliche sein mögen: “Erfüllt einer der Rechtsgelehrten die in Grundsatz 5 des Gesetzes erwähnten Voraussetzungen und wird er von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung als islamische Autorität und Führer anerkannt und bestätigt, wie es bei dem geistlichen Oberhaupt und Führer der Revolution, dem Großajatollah Khomeini der Fall ist, so übernimmt dieser Führer die Führungsbefugnis und alle damit verbundenen Verantwortungen. Andernfalls beraten sich die vom Volk gewählten Experten und prüfen die islamische Autorität und die Führungseigenschaft der in Frage kommenden Person. Sollten sie eine islamische Autorität zur Führung als besonders geeignet erachten, so empfehlen sie diese Person dem Volk als islamischen Führer; andernfalls bestimmen sie 3 oder 5 islamische Autoritäten mit den erforderlichen Führereigenschaften als Mitglieder des Führungsrates und empfehlen sie dem Volk.”(Grundsatz 107).

 

Entscheidend ist aber, daß der Nachfolgeanwärter nicht nur praktische “Führungseigenschaft” besitzen muß; er muß vor allem “Wissenschaftliche und den islamischen Tugenden entsprechende Fähigkeit zur Erteilung von Rechtsgutachten (fetwa) und die Kompetenz als islamische Autorität (Marja-e Taqlid)” besitzen. Diese Hervorhebung der Marjaiyat als entscheidendes Kriterium der Nachfolgerschaft entsprach der khomeinistischen Legitimationslogik der Herrschaft der Rechtsgelehrten und damit des Amtscharismas. Wenn demnach das islamische Recht und dessen immanentes Lösungspotential für alle menschlichen Probleme die Legitimationsgrundlage der “Islamischen Republik” bildet, muß demjenigen die Führung des Staates zukommen, der am kompetentesten in der Rechtsfindung im Rahmen der Schari’a ist. So kann niemand außer einem Großajatollah oder einem Rat, bestehend aus 3 bis 5 gleichrangigen Großajatollahs, für dieses Amt in Frage kommen. Nur diese wären der Nachfolgeschaft des Propheten und der 12 unfehlbaren Imame würdig. Selbst sie wären nur dann geeignete Nachfolgekandidaten, wenn sie auch die ursprünglich als sekundär hervorgehobene zweite Voraussetzung, die ”erforderlichen Führungseigenschaften”, erfüllten. Wer also diese Voraussetzungen erfüllt, kann Befehlsgewalt erlangen und damit Rechtsanspruch auf die Gehorsamspflicht der gläubigen Staatsbürger erheben. Selbst dies nur dann, wenn er von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung als islamische Autorität und Führer anerkannt und bestätigt wird.

 

2.2. Zur Designierung und Resignierung Montazeris als Nachfolger und der Notwendigkeit einer Verfassungsreform.

 

Mit der Designierung Aj. Montazeris zu seinem Nachfolger, kurz nach der Konstituierung der Islamischen Republik, überträgt Aj. Khomeini die im Grundsatz 109 festgeschriebenen religiösen und politischen Eigenschaften des Führers auf ihn. Damit bestätigt er ihm die Erfüllung der notwendigen zweifachen “Voraussetzungen und Eigenschaften des Führers”. Am 29. März 1989 führte jedoch seine zunehmend kritische Distanz zum Establishment der Islamischen Republik, vor allem aber seine öffentliche Kritik seit dem Ende des Krieges, schließlich zum unfreiwilligen Rücktritt Montazeris von seiner Position als designierter Nachfolger Khomeinis. Der Druck zum Rücktritt wurde damit begründet, daß er durch seine praktische Haltung bewiesen habe, daß er nicht über jene Eigenschaften verfüge, die zur Führung des höchsten Amtes in der Islamischen Republik benötigt werden. Er wäre zu gutmütig, naiv und äußerst leicht beeinflußbar. Mit dieser Enteignung der charismatischen Eigenschaften ermahnte ihn gleichzeitig Khomeini, der seinen Rücktritt annahm, sich von “unlauteren” Elementen zu distanzieren und diese aus seinem Umfeld zu entfernen.[41]

 

Montazeris kritische Stellungnahmen gegenüber der bisherigen Herrschaftspraxis der Rechtsgelehrten und die Verbindungen, die er mit als “Konterrevolutionäre”, “Liberale”, “Heuchlern” und “Verrätern” stigmatisierten Gruppen und Personen eingegangen war, oder die er um seine Person herum geduldet hatte, hatten die Furcht des Establishment genährt, daß zumindest die Alleinherrschaft der islamischen Rechtsgelehrten nicht mehr garantiert wäre, sollte er jemals die Führung übernehmen.

 

Mit seinem Abgang entstand aber zugleich eine für den Bestand der “Statthalterschaft der Rechtsgelehrten” (welayat-e faqih) eine nicht minder problematische Lage, wollte man der geltenden Verfassung folgen. Laut Verfassung durfte das Amt des Führers (rahbar) nur von einem Großayatollah (ayatollah ol-ozma), d.h. von einem als Instanz der Nachahmung (marja-e taqlid)[42] anerkannten Ajatollah bekleidet werden. Montazeri war aber der einzige Großayatollah unter einem halben Dutzend existierenden, der sich auf der Linie des schiitisch-chiliastischen Aktivismus Khomeinis, auf der “Linie des Imam Khomeini” befand. Damit wurde eine Neuordnung der Nachfolgerfrage eine unabdingbare Notwendigkeit der Veralltäglichung der Herrschaft. Der einzig gangbare Weg für die Erhaltung des bestehenden Machtgefüges bestand, angesichts des Fehlens eines geeigneten qualifizierten Nachfolgers als islamische Autorität und Führer, demnach in der Anpassung der Verfassung an die Realität. Dabei konnten gleichzeitig einige Kompetenzunklarheiten und -überschneidungen in der bestehenden Organisation der Herrschaft beseitigt und das politische System gestrafft werden. Diese Verfassungsänderungen umfaßten zudem die Zentralisierung der Befugnisse der Exekutive und Judikative, sowie die verfassungsmäßige Verankerung des, aus vorausgehenden internen Machtkämpfen der Kerngruppen der Herrschaft geborenen, “Schlichtungsrates”(schora-je maslehat-e nezam) als Beratungsorgan des Führers, die Abschaffung des Shora-Systems (Rätesystem) als revolutionäres Relikt, eine Regelung für Verfassungsänderungen, Änderung des Parlaments als “Nationale Ratsversammlung” in “Islamische Ratsversammlung”, die Anpassung der Zahl der Parlamentsmitglieder dem Bevölkerungswachstum und der geographischen Mobilität, sowie der Neuregelung der Kontrolle der elektronischen Massenmedien.[43] Die Entscheidung zu einer Revision der Verfassung traf Khomeini schließlich am 24. April 1989 mit der Ernennung eines 20köpfigen Komitees zur Ausarbeitung einer Vorlage, zumal die Verfassung keine diesbezüglichen Verfahrensregeln vorsah.

 

2.3. Zur Richtungsbestimmung des Veralltäglichungsschubes des Amtscharismas durch die Verfassungsrevision.

 

Bei der Revision der Verfassung sind vor allem jene Änderungen für die Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft entscheidend, die mit der Eliminierung der “Marjaiyat”, d.h. der “Fähigkeit zur Erteilung von Rechtsgutachten” als wesentliche charismatische Eigenschaft des Führers, zu einem Veralltäglichungsschub des Amtscharismas der Geistlichkeit als ein Erhaltungstyp der Herrschaft beitragen. Denn die Wahl eines einfachen Ajatollahs als Nachfolger Khomeinis bedeutet eine deutliche Verschiebung in der Legitimationslogik der Rechtsgelehrtenherrschaft. Damit wurde praktisch eine Trennung zwischen dem Amt des Führers und der Instanz der Nachahmung vollzogen, die ideologisch begründet werden mußte. Das zu diesem Zweck gelieferte Legitimationsmuster transformierten jedoch den chiliastischen Aktivismus, den Aj. Khomeini als Legitimationsgrundlage der revolutionären Einführung der Schriftgelehrtenherrschaft geliefert hatte, in einen chiliastischen Quietismus. In dieser Form existierte er schon seit Jahrhunderten als Legitimationsgrundlage der Akzeptanz der als unislamisch angeprangerten Despotien. Auch jetzt legitimiert er den Erhaltung einer Herrschft, die als ein charismatisch entstand. Demnach wäre die Herrschaft (welayat) das wichtigste Prinzip der Führung einer islamischen Gesellschaft, hob u.a. Ayatollah Azari Qomi in einer Artikelreihe hervor. Die Existenz der Herrschaft sei so eminent, daß selbst wenn notgedrungen ein lasterhafter Ungläubiger sie ausüben würde, die Gläubigen die Pflicht hätten, ihm zu gehorchen. Entscheidend sei ”das Wohl der Gesellschaft”, selbst wenn dies vorzugsweise durch einen “aufrichtigen und vertrauenswürdigen Ungläubigen”, ja sogar durch einen “lasterhaften und despotischen Ungläubigen” gewährt wird: “Gott möge verzeihen, die absolute Herrschaft könnte sogar einem lasterhaften und despotischen Ungläubigen zuteil werden, der bei der Führung das Wohl der Gesellschaft relativ berücksichtigen würde.”[44] Unter den gläubigen Herrschaftskandidaten stünde den Muslimen ein Spektrum von Wahlmöglichkeiten zur Verfügung. An einem extremen Pol solch eines Spektrums stünde der Prophet, in der Mitte ein Großayatollah und ganz am anderen Pol ein einfacher “Nachahmer” (moqalled), “....der sich viele Kapiteln der Rechtswissenschaft angeeignet hat und im Notfall die Möglichkeit des Lernens und Nachschlagens besitzt.”[45] Von diesen Laien habe jeder das Recht, über die Muslime absolute Macht auszuüben, wenn eine geeignete Person zur Ausübung der Herrschaft fehle. Selbst vor die Wahl gestellt, einem Rechtsgelehrten ohne Führungsqualitäten die Staatsführung anzuvertrauen oder einem Laien mit Führungsqualitäten, müßte man sich für den letzteren entscheiden.[46] Diese Legitimationsbemühungen der Möglichkeit eines Verzichtes auf Großayatollahs als Nachfolger bestätigte Aj. Khomeini in einem Brief von 29.4.89 an den Vorsitzenden des “Expertenrates”, Aj. Meschgini. Darin behauptet er, er hätte schon immer darauf insistiert, daß Ayatollah zu sein, keine Bedingung für das Amt der Führung sei. Entscheidend sei, daß wir für “(...) unsere islamische Ordnung einen Sachwalter brauchen”. “Dazu müssen wir jemanden aussuchen, der in der Lage ist, unsere islamische Würde in der Welt der Politik und der List zu verteidigen.” Ein gerechter Mojtahed würde hierzu schon ausreichen.[47] Mit dem Verzicht auf das Vorbildcharakter des Führers und der Eröffnung der Möglichkeit, einen Mojtahed, d.h. einen Rechtsgelehrten, der die Eignung erworben hat, auf den Grundlagen der Schari’a Rechtsgutachten zu erstellen, als Führernachfolger zu bestimmen, wird ein weiterer pragmatischer Schub der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft im Sinne einer praktischen Trennung von Marjaiyat und Herrschaft eingeleitet.

 

Diese Loslösung des Staates von seiner ursprünglichen chiliastisch-aktivistischen Legitimation der Notwendigkeit seiner Existenz hatte jedoch weitgehende Konsequenzen für das Verhältnis der religiösen Autoritäten zum Staat, an dessen Spitze ein Rang niedrigerer Geistliche stehen kann, zumal die revidierte Verfassung keine Regelung für die Beziehung zwischen diesen beiden Instanzen vorsah. Es wurde als selbstverständlich beansprucht, daß die religiöse Autoritäten sich der Führung zu unterwerfen haben. So hob Rafsanjani, dem sich andere khomeinistische Geistliche anschlossen, hervor, daß Gehorsam gegenüber dem vom Experten gewählten Führer für jeden ein Gebot sei.[48] Der religiösen Autorität wurde nur in gottesdienstlichen und privatrechtlichen Angelegenheiten eine Eigenständigkeit eingeräumt. Sogar die im vorrevolutionären Staat übliche Praxis, religösrechtliche Abgaben wie das Fünftel des Einkommens der Gläubigen (Khoms) einzutreiben, wurde ihnen streitig gemacht.[49] Legitimiert wurden diese Schritte mit der Notwendigkeit der Erhaltung des islamischen Staates. Mit der faktischen Erhebung der Staatserhaltung zum höchsten Prinzip des Islams reduziert sich zunehmend das Islamische an diesem Staat auf die Besetzung der Führungspositionen des Staates mit machtstärkeren Geistlichen. Der Islamische Staat verwandelt sich so in einen Interessenveband der in mehreren Machtblöcken zersplitterten etablierten Geistlichkeit als einer charismatischen Aristokratie. Die Verfassung ist für diese habituell sich unterscheidenden Kerngruppen der Macht daher insofern relevant, als sie die Machtverteilung unter ihnen mehr oder weniger regelt und dabei jener Dynamik pragmatisch Rechnung trägt, die sich aus den Struktureigentümlichkeiten der bisherigen Machtverteilung ergibt.

 

Entscheidend für die Richtung der Veralltäglichung im Sinne einer weiteren institutionellen Ent-Demokratisierung der Herrschaft ist jedoch die Abschaffung des im Grundsatz 5 der Verfassung vorgesehenen demokratischen Prinzips der Anerkennung und Bestätigung des Rechtsgelehrten als entscheidende Legitimationsgrundlage seines Herrschaftsanspruches. Der Führer leitet seinen Anspruch auf Gehorsamspflicht allein aus der Bestätigung seiner Autorität durch die geistliche Aristokratie. Es sind nunmehr allein die vom Volk gewählten Rechtsgelehrten, die im “Expertenrat” die islamische Autorität und die Führungseigenschaften der in Frage kommenden Personen gem. Grundsatz 107 überprüfen und dem Volk als Führer “empfehlen”. Diese “Experten” sind es auch, die gem. Grundsatz 111 den Führer seines Amtes entheben dürfen, wenn er “nicht mehr imstande ist, seine gesetzlichen Pflichten zu erfüllen, oder wenn er eine der im Grundsatz 109 erwähnten Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.” Damit verschiebt sich institutionell die Machtbalance zwischen dem Führer, der geistlichen Aristokratie und dem Volk zugunsten einer nunmehr nur traditionell legitimierten Autorität der Geistlichkeit, mit dem Führer an deren Spitze.

 

Doch die von Aj. Khomeini praktisch ausgeübte absolute Macht und seine praktische Suprematie der Verfassung gegenüber wurden nicht in die revidierte Verfassung aufgenommen. Zudem wurden die Befugnisse des Führers präziser formuliert. Im Unterschied zur ursprünglichen Verfassung wurde aber in Grundsatz 107 der revidierten Fassung ausdrücklich erwähnt, daß der Führer im Besitz der Befehlsgewalt (welayat-e amr) ist. Er bestimmt nach Beratung mit dem “Feststellungsrat” die allgemeine Ausrichtung der Politik im Lande und beaufsichtigt zudem deren Ausführung (Grundsatz 110). Das ihm ursprünglich zugestandene Recht, das Parlament aufzulösen, mußte gestrichen werden, nachdem 108 Abgeordnete in massiver Form dagegen protestierten.[50] Dem “Geist der Verfassung” gemäß hätte er, entsprechend der “konservativen” Lesart, weiterhin die Möglichkeit, als höchste gesetzgeberische Instanz zu wirken. In der Praxis hängt die Realisierung dieser Möglichkeit jedoch vor allem von den realen Machtchancen des Führers ab, die sich mit der Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Figuration der Menschen wandeln. Doch dieser autoritär-theoretische “Geist der Verfassung”, der selbst aus einer nachrevolutionären Machtbalance entstanden war, hatte sich bereits als Folge der Konkurrenzkämpfe der Kerngruppen der Herrschaft verstärkt. Aus einer sich quasi absolut zugunsten Aj Khomeinis neigenden revolutionären Machtbalance, hatte er ursprünglich kraft seiner schier uneingeschränkten Autorität als Revolutionsführer die Chance, in umstrittenen gesetzgeberischen Angelegenheiten wie Gesetzgebung zur Landreform und Arbeitsrecht u.a. einzugreifen. Als Führer der Revolution hatte er zwar keine verfassungsmäßige gesetzgeberische Kompetenzen, er galt jedoch in der Praxis als die höchste Instanz auch in der Legislative. Diesem “Geist der Verfassung” entsprechend war daher seine Autorität als Führer und als religiöse Autorität uneingeschränkt. Je dringlicher und häufiger die zunehmend sich differenzierenden Kerngruppen der Herrschaft in ihren Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen ihn um ein Machtwort in Zusammenhang mit den umstrittenen Gesetzentwürfen zur Lösung der anstehenden Probleme baten, desto mehr entfesselten sie jenen autoritär-hierokratischen “Geist der Verfassung”, als dominante Schicht des sozialen Habitus der Etablierten. Diesem “Geist” entsprechend symbolisierte der Wortlaut der Verfassung bloß die absolute Herrschaft Gottes in der Person Khomeinis.


2.4 Die Einführung eines Vermittlungsausschusses als ein weiterer Schub der Veralltäglichung des Aufstiegstyps der Herrschaft im Sinne eines Erhaltungstyps der Herrschaft der Geistlichkeit.

 

Bei den sozialen Trägern dieses Erfahrungsbildes, das sich mit dem Begriff der Verfassung der Islamischen Republik verbindet, ist nach wie vor keine Bereitschaft zu erkennen, Entscheidungen grundsätzlich und durchgehend auf demokratischem Wege, d.h. durch die Stimme der Mehrheit, erfolgen zu lassen. Eine solche Regelung widerspräche dem Konzept des Islamischen Staates, der sich als eine Schriftgelehrtenherrschaft nicht durch Mehrheitsprinzipien, sondern nur durch die Shari´a legitimiere. Demnach muß jede Entscheidung - unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen - der Shari´a entsprechen, wie sie letztlich von den machtstärksten Geistlichen im “Wächterrat” definiert wird. Diese Vorstellung führte zu einem “System der aufgestockten Gesetzgebungsorgane”, die mit dem Parlament die Volkssouveränität und mit dem “Wächterrat” Gottes Souveränität repräsentieren sollten. Zudem entschieden letztlich die realen Machtchancen und die Autorität der Inhaber der jeweiligen Staatsgewalten, welche Meinungen mit der Shari´a übereinstimmten, ob sie in Gesetzesform zu bringen waren und ob sie überhaupt als Gesetz dann auch tatsächlich ausgeführt wurden. Verzögerungen, Verwässerungen und Blockierungen der Gesetzgebung im Namen Gottes waren die Resultate dieser Organisationsform der Herrschaft. Aus pragmatischen Gründen und gestützt auf das im islamischen Recht anerkannte “Prinzip der Notwendigkeit”(asl-e zarurat) erteilte Aj. Khomeini am 11.10.81 dem Parlament das Recht, in Notfällen Gesetzentwürfe zu verabschieden, die Bestimmungen der Schari’a vorübergehend außer Kraft setzen würden. Damit sollten die Einwände des Wächterrates gegen Gesetzentwürfe, die als wesentlich eingestuft wurden und in der Tat die Sozial- und Wirtschaftsordnung der islamischen Republik bestimmen sollten, überwunden werden. Als diese Lösung auf den Einwand der Geistlichkeit stieß, daß man einer Anzahl von Laien im Parlament nicht zubilligen könne, Bestimmungen der Schari’a außer Kraft zu setzen,[51] ordnete Khomeini im August 1984 an, daß das Parlament nur mit Zweidrittelmehrheit derartige Entscheidungen treffen dürfe. Aber auch diese Anordnung brachte nicht den erwünschten Erfolg. Der Wächterrat fand Mittel und Wege, auch jene Parlamentsbeschlüsse zu Fall zu bringen, die auf dieser Basis gefaßt wurden. Allein in der ersten Legislaturperiode (Mai 1980 bis Mai 1984) lehnte der Wächterrat ein Viertel der vom Parlament verabschiedeten Gesetzesentwürfe ab. Von 64 als “grundlegend” qualifizierten Entwürfen fanden in dieser Periode sogar nur 33 die Zustimmung des Wächterrates. Der Anteil der Ablehnungen fiel in den ersten drei Jahren der zweiten Legislaturperiode noch dramatischer aus. Von 231 in diesem Zeitraum vom Parlament verabschiedeten Gesetzentwürfen fanden102 nicht die Zustimmung des Wächterrates. Im Interesse der Verhinderung der Autoritätserosion Khomeinis und der institutionellen Überwindung der paralysierenden Wirkung solch einer Organisationsform der Herrschaft, wie sie sich aus der vorherrschenden Formation der Kerngruppen der Herrschaft ergab, kam es am Februar 1988 zur Proklamierung eines “Gremiums für die Feststellung der Interessen der Staatsordnung” (marja-e tashkhis-e nezam), kurz: “Feststellungsrat”. Er sollte schlichtend eingreifen und pragmatische Entscheidungen im Sinne der Erhaltung der bestehenden Ordnung treffen. Dadurch sollte der Blockierung der zu diesem Zeitpunkt von der “progressiven” Fraktion dominierten Legislative und Exekutive durch den Wächterrat entgegengewirkt werden, der durch die “konservativen” Geistlichen kontrolliert wurde. Der Einführung dieses zunächst als Vermittlungsausschuß gedachten Gremiums ging aber eine Direktive Khomeinis voraus, die im Interesse der Erweiterung des Entscheidungs- und Handlungsspielraumes der Regierung, vor allem im Hinblick auf die Erfordernisse des Krieges, der Wirtschaftsentwicklung und nicht zuletzt des Wiederaufbaus gleichsam die Schari’a zumindest zeitweilig suspendierte: “Die Regierung, die ein Zweig der absoluten Statthalterschaft des Propheten Gottes ist, gehört zu den primären Bestimmungen des Islam und ist all den Bestimmungen, die den sekundären Zweigen zugerechnet werden (ahkam-e far’iye), selbst dem Gebet, dem Fasten, und der Pilgerfahrt vorangestellt.”[52] Mit dieser pragmatischen Lösung des entstandenen verfassungs- und staatsrechtlichen Streites um die grundlegende Frage nach der Rechtsfindung in einem von der Schari’a geprägten System wurde ein weiterer Schub der Veralltäglichung der charismatischen Herrschaft im Sinne eines Erhaltungstyps eingeleitet. Die Verkündigung dieser Direktive fand keineswegs ungeteilte Zustimmung. Vor allem große Teile der Geistlichkeit äußerten Vorbehalte zum einen aus grundsätzlichen theologischen Erwägungen: So seien weder die Fälle spezifiziert, in denen Anordnungen der Regierung aus Gründen des öffentlichen Interesses über das islamische Gesetz gestellt werden könnten, noch seien sie zeitlich begrenzt. Zum anderen werde der Regierung damit die Rechtsgrundlage für totalitäre Machtausübung an die Hand gegeben. Um diesen Einwänden entgegenzuwirken, ordnete Khomeini am 6.2.88 die Einsetzung des genannten Schlichtungsorgans zwischen Wächterrat und Parlament an. Mit der Verfassungsrevision wurde dieses, die Spitze des politischen Establishments umfassende, Schlichtungsorgan gem. Grundsatz 112 verfassungsmäßig verankert und zugleich als Beratungsorgan des Führers institutionalisiert. Damit wird nicht nur der Entscheidungsspielraum des Wächterrates pragmatisch eingeschränkt, sondern auch der des Führers, der nunmehr nach Beratung mit diesem Gremium die allgemeine Ausrichtung der Politik bestimmen darf (Grundsatz 110). Dies war in Zusammenhang mit der bevorstehenden pragmatischen Nachfolgeregelung unabdingbar geworden.

 

2.5 Zur Wahl Khameneis als Nachfolger durch den “Expertenrat” als Veralltäglichung der Befehlsgewalt des Führers.

 

Am 3.6.1989 starb Aj. Khomeini, bevor die von ihm eingesetzte Verfassungsreform-Kommission ihre Arbeit abgeschlossen hätte und die veränderte Verfassung durch ein Referendum am 28.7.89 bestätigt worden wäre. Trotzdem vollzog sich der Übergang von der khomeinistischen in die nach-khomeinistische Ära reibungsloser, als dies von vielen Beobachtern erwartet wurde. Aber damit vollzog sich auch eine weitgehende Veralltäglichung der Befehlsgewalt des Führers und eine entsprechende Umgestaltung des Herrschaftssystems.

 

Nach der gültigen Verfassung hätte ein Großajatollah oder ein Rat von Großajatollahs zum Nachfolger gewählt werden müssen. Aus pragmatischen Gründen und sich über diese Verfassungshürde hinwegsetzend wählte der nach der revidierten Verfassung für die Wahl des Nachfolgers zuständige Expertenrat am selben Tag den amtierenden Staatspräsidenten Hojjat ol-Eslam Ali Khamenei zum Nachfolger. Der neue Führer avancierte von diesem Augenblick an zum Ajatollah. Dieser verfassungswidrige Akt, der zugleich als eine Transformation des persönlichen in ein Amtscharisma begriffen werden kann, wurde anschließend entsprechend des Konzepts der absoluten Befehlsgewalt der Rechtsgelehrten wie folgt legitimiert: Diese Entscheidung entspricht, so Ajatollah Azari Qomi, wenn auch nicht dem Wortlaut, so doch dem Geist der Verfassung.[53] Khamenei habe, so Rafsanjani, genauso die Eignung zum Großajatollah wie Montazeri, als er von Aj. Khomeini zum Nachfolger gewählt wurde, obwohl er kein Großajatollah war.[54] Zudem habe Khamenei deswegen diese Eignung, weil Khomeini, dessen Wort sowieso über dem Wortlaut der Verfassung stünde, seine Befähigung für dieses Amt mehrfach erwähnt hätte.[55] Der Expertenrat, der ihn zum Führer gewählt habe, so Ayatollah Azari Qomi, bestehe aus Religionsexperten; sie sind in der Lage, seine religiöse Eignung festzustellen.[56] Ein Mojtahed, der zum Führer gewählt werde, erlange gleichzeitig die Position einer Instanz der Nachahmung. Der Expertenrat habe das Recht, Khamenei die Würde eines Großajatollahs zu verleihen, so wie er das Recht habe, ihm das Amt des Führers zu übertragen.[57] Um jedes formale Legitimationsproblem auszuräumen, wählte der Expertenrat Khamenei nach Billigung der revidierten Verfassung, welche die Marjaiyat nicht mehr als Bedingung der Übernahme des Amtes des Führers enthält, erneut zum Führer.

 

Mit der Wahl Khameneis zum Führer erhob sich für die Kerngruppen der Herrschaft die Frage nach den Kompetenzen des Führers. Weil die aus der Krise entstandenen Machchancen eines charismatischen Führers mit der Institutionalisierung der Herrschaft entsprechend längst verteilt waren, stellte sich doch ein für die weitere Entwicklung der Islamischen Republik wesentliches Problem: Wie kann einem Statthalter Gottes die absolute Macht vorenthalten werden, selbst wenn der Amtsinhaber über kein persönliches Charisma verfügt und angesichts der sich verschobenen Machtbalance innerhalb der elitären Kerngruppen und im Verhältnis zum weiteren sozialen Feld real nicht über solch eine Machtchance verfügen kann. Aus diesem Dilemma heraus ergab sich zunächst eine Kompromißlösung, die sich pragmatisch aus zwei entgegengesetzten Positionen innerhalb der Kerngruppen der Herrschaft ergab: Auf der einer Seite standen die Befürworter einer Veränderung der Verfassung im Sinne einer absoluten Machtposition des Führers. In diesem Sinne repräsentierte Ayatollah Azari Qomi die Meinung derjenigen, die das Amtscharisma des Führers betonten; danach besitze jeder die absolute Herrschaftsgewalt, der vom Expertenrat zum Führer gewählt werde.[58] Auf der anderen Seite schlug man mit Ayatollah Jennati die Streichung des Führeramtes aus der Verfassung vor und hob das Amtscharisma der Geistlichkeit hervor, weil man das Prinzip der Führung, so wie es in der Verfassung stehe, langfristig nicht wurde halten können.[59] Demnach würde der Wächterrat ausreichen, um die Herrschaft der Schari’a über die Gesetzgebung zu garantieren.[60]

 

2.6       Zur Verschiebung der Balance zwischen Traditionalisierung und Legalisierung der Herrschaft seit den letzten Präsidentschaftswahlen.

 

Gegenüber diesen aristokratischen Positionen der Geistlichkeit entwickelte sich eine spontane Bürgerbewegung, welche die republikanischen Komponenten der Verfassung betont hervorhob. Diese Bewegung, die aus der Transformation der Selbsterfahrung der Menschen als Bürger entstand, entfaltete sich innerhalb des Handlungspielraumes, wie er sich aus den Spannungen und Konflikten der Kerngruppen der Herrschaft ergab. Sie gewinnt ihre zunehmende Machtchance dadurch, daß diese Kerngruppen in ihren immer sich verschärfenden Konkurrenz- und Ausscheidungskämpfen um die staatlichen Machtmonopole zunehmend auf die Unterstützung der Bürger angewiesen werden. Zudem verschafft ihnen die Widersprüchlichkeit der Verfassungsnorm den entsprechenden Legitimationsspielraum. Als eine bestimmte Balance zwischen Kooperation und Konflikt der nachrevolutionären sozialen Gruppen, verkörpert die Verfassung der Islamischen Republik in der Tat ihre sozio- und psychogenetischen Spannungen und Konflikte. Entstanden durch eine islamisch geprägte revolutionäre Massenerhebung gegen eine – wenn auch seit langem bereits suspendierte konstitutionelle – Monarchie eines aufgeklärten Despoten, institutionalisierte sie als Manifestation der Volksmacht das republikanische Prinzip und die verschiedenen Instanzen der Volksvertretung neben der Souveränität Gottes, vertreten durch die islamischen Rechtsgelehrten, welche die Führung der revolutionären Erhebung monopolisierten. Als eine spezifische Verflechtungsstruktur, die aus der Verflechtung des Verhaltens und Empfindens von vielen einzelnen Menschen erwachsen ist, reflektiert sie in ihrer Widersprüchlichkeit eine bestimmte Station des Lernprozesses der involvierten Menschen. In ihrer Gestalt manifestiert sich eine bestimmte Machtbalance, die aus einer funktionalen Demokratisierung und durch die krisenhafte Erfahrung der Menschen, d.h. aus einer allgemeinen Krisenlage der Menschen, entstanden ist. Die Richtung der Lösung dieser immanenten Unstimmigkeiten der Verfassung, als Institutionalisierung der nachhinkenden sozialen Selbsterfahrung dieser Menschen, ist daher nicht nur allein abhängig von der Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Machtbalance im Sinne der funktionalen Interdependenzen; sie hängt vor allem ab von Art und Grad der Erfahrung der involvierten Menschen als Einzelne und als Gruppen. Die angestrebte institutionelle Demokratisierung, die sich vor allem in den letzten Präsidentschafts- und Kommunalwahlen massenhaft manifestiert, zeugt von einem neuen Schub der Selbsterfahrung der sich zu mündigen Bürgern entwickelnden IranerInnen. Dieser Schub setzt ein mit dem Übergang von der khomeinistischen in die nach-khomeinistische Ära. Damit vollzog sich eine weitgehende Veralltäglichung der Befehlsgewalt der Regierenden und damit eine Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse. Sie vollzog sich mit: 1. der Veränderung der Person des Herrschers; 2. der Veränderung der Zusammensetzung der Regierten, die allein schon dadurch zum Ausdruck kommt, daß ca. 45% der überdurchschnittlich jungen Bevölkerung erst nach der Revolution geboren wurde, daß 50% der ca. 20 Mill. Schüler und Studenten aus Frauen besteht und die Analphabetenrate auf ca. 20 bis 30% reduziert wurde; 3. der Differenzierung und Verschiebung der Figuration der Kerngruppen der Herrschaft, wie sie sich in ihrer neuen Formationen, in der Demokratisierung des Islamverständnisses und der damit einhergehenden Einstellung Teile dieser Etablierten zu den Regierten, sowie in ihren vor allem als Selbstschutzmaßnahme eingeleiteten Bemühungen zur Einschränkung der rechtsfreien Handlungsspielräume der Mächtigeren und in ihrem Ruf nach allgemeiner Partizipation und Rechtsstaatlichkeit niederschlägt; 4. der Verringerung des Grades der Fügsamkeit der Regierten als Ausdruck der habituellen Reduktion des Einflusses der eher konservativ geprägten Teile der Etablierten bzw. der habituellen Verschiebung der Machtbalance zwischen den Regierenden und Regierten zugunsten der letzteren, wie sie sich seit den letzten Präsidentschaftswahlen als Reduktion der sozialen Basis der absoluten Rechtsgelehrtenherrschaft bis zu 10 bis 15% der Bevölkerung beobachten läßt; 5. in der massiven Reduktion der subjektiven Akzeptanz der absoluten Rechtsgelehrtenherrschaft bei den Regierten, wie sie gegenwärtig durch öffentliche Diskussion und Infragestellung ihrer Legitimation zum Ausdruck kommt. Diese zunehmende Erosion der Legitimität der absoluten Rechtsgelehrtenherrschaft, vor allem bei Jugendlichen, Frauen und Intellektuellen und die zunehmenden Unterschiede im beigemessenen Sinn und der zugesprochenen Bedeutung des Autoritätsverhältnisses durch die Regierenden und Regierten manifestieren sich in den letzten Wahlen. Die zunehmende Häufigkeit des zivilen Ungehorsams, wie sie sich selbst im sehr engen Rahmen der bestehenden Möglichkeiten vor allem im Wahlverhalten der Mehrheit der Bevölkerung wahrnehmen läßt, ist Ausdruck der Verschiebung der Balance zwischen der autoritär-hierokratischen und der republikanischen Komponente der Verfassung zugunsten der letzteren.

 

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[1]Vgl. Max Weber 1980, S. 140ff

[2]Vgl. Gholamasad 1985

[3] Vgl. Weber 1980, S. 142. Außeralltäglich ist diese Herrschaft, weil das Emporkommen des charismatischen Führers und seiner Kerngruppen sich, gemessen an dem herkömmlichen Alltag und den herkömmlichen Aufstiegsformen der bisherigen gesellschaftlichen Herrschaftsorganisation, ungewöhnlich vollzieht. Sie entsteht aus der Krise dieser alltäglichen Organisationsform der Herrschaft.

[4] Charisma verweist auf die zugeschriebenen überlegenen Fähigkeiten eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen, die sich als ihre scheinbar eigenen überlegenen persönlichen Qualitäten verselbständigt und für alle Beteiligten verhaltensteuernd wirkt und zwar als interdependente Gefühlslage der involvierten Menschen: bei Machtstärkeren als Überlegenheitsgefühl und bei Machtschwächeren als Unterlegenheitsgefühl.

[5] Sozialer Aufstieg bedeutet jede Veränderung in einem sozialen Felde, die für den oder die Beteiligten, gemessen an ihrer Ausgangspositionen, die Chance zur Erhöhung des sozialen Prestiges und des Selbstbewußtseins mit sich bringt. ( Elias 1983, S. 188)

[6] Die Entwicklung der Sebstwertbeziehungen bilden den harten Kern, um den herum das Selbstwertgefühl eines Menschen aufgebaut ist. Sie variiert nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch von Gesellschaft zu Gesellschaft. (Elias/ Scotson 1990, S. 308)

[7] Vergl. Gholamasad 1985

[8]Vgl. kayhan, Havai, 7.03.1979

[9]Vgl. Lambton 1954, S. 146ff

[10]Vgl. Floor, 1980, S. 136. Dies widerspricht sogar den eigenen Befunden Floors. Er stellt zwar fest, daß das Amt des Mohtaseb im vorneuzeitigen Iran zwar existierte, ohne eine religiöse Behörde mit der Hauptaufgabe des "al-amr b´ il ma´ruf wa nahi àn al-munkar" zu sein. Außerdem stellt er eine direkte Verbindung zwischen vorislamischen Beamten wie etwa dem byzantinischem Agronomos und dem Mohtaseb als Marktaufseher fest. (Vgl. ebda., S. 122).

[11]Vgl. Schirazi 1992

[12]Khomeini1983, S. 33

[13]Khomeini 1983, S. 18

[14]Khomeini 1983, S. 17f

[15]Khomeini 1983, S. 34

[16]Khomeini 1983, S. 32, Herv.d.A.

[17]Khomeini 1983, S. 34

[18]Khomeini 1983, S. 36

[19]Khomeini 1983, S. 61, Herv.d.A.

[20]Vgl. Khomeini 1983, S. 48

[21]Vgl. Khomeini 1983, S. 47

[22]Khomeini 1983, S. 84

[23]Khomeini 1983, S. 84

[24] Erinnertes Wandlungskontinuum ist ein von Norbert Elias implizit eingeführter Begriff für die Erklärung der Identitätserfahrung der Menschen (Elias 1988, S. 249ff). Die religiöse Identität der Menschen konstituiert einen mehr oder weniger zentralen Aspekt der Menschen. Die Identität des Islam als Glaubensvorstellung der sich entwickelnden Menschen beruht demnach auf der Kontinuität des Entwicklungsprozesses dieser Menschen als Einzelne und als Gruppen. Jede spätere Entwicklungsphase dieses Entwicklungsprozesses, den die Menschen durchmachen, hat den kontinuierlichen Ablauf der vorangehenden individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungsphasen zur Voraussetzung. Zudem ist dieser Entwicklungsvorgang und seine symbolische Darstellung durch kommunizierbare Begriffe, d.h. der Vorgang als solcher und als Gegenstand der individuellen Erfahrung, ineinander verschlungen und ganz untrennbar. Damit ist die Kontinuität eines Gedächtnisses, das erlerntes Wissen und so auch persönliche Erfahrungen früherer Phasen als Kräfte der aktiven Empfindens- uns Verhaltenssteuerung späterer Phasen verarbeitet, die unabdingbare Voraussetzung der Identitätserfahrung der Menschen. Das Vermögen der selektiven Aufbewahrung von Erfahrungen aus allen individuellen und gesellschaftlichen Lebensalter der Menschen im Gedächtnis, ist daher eine der zentralen Faktoren der Individualisierung der Menschen und damit ihrer Glaubensvorstellungen. Je größer im Zuge der Gesellschaftsentwicklung der Spielraum für Verschiedenheiten der im Gedächtnis der Einzelnen eingravierten Lebenserfahrung wird, um so größer wird die Chance der Individualisierung des Glaubens.

Die Angemessenheit der Betrachtung des Islam als ein erinnertes Wandlungskontinuum ergibt sich nicht nur daraus, daß es heute unterschiedliche islamische Strömungen und Sekten gibt; sie ergibt sich auch daraus, daß selbst die dominanten Versionen des Islam sich aufgrund der fetwas (Gutachten) der Großajatollahs permanent entwickeln. Diese Gutachten, die als Handlungsdirektiven im Zusammenhang mit den neu entstandenen Lebensumständen der Muslime und ihren daraus hervorgehenden Bedürfnissen nach neuen Orientierungshilfen entstehen, beruhen auf Koran und Sunna, d.h. den Überlieferungen. Selbst der Koran und die Überlieferungen sind aus Erinnerungen der Zeitgenossen des Propheten entstanden. Allein dies verweist auf Islam als ein erinnertes Wandlungskontinuum.

[25]Vgl. Tibi 1992

[26]Barreau 1992

[27]Khomeini 1983, S. 23

[28]Zitiert nach dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Khomeini 1983, S. 10f

[29]Schirazi 1992, S. 24ff

[30]Vgl. Freud 1974

[31] Zivilisation im soziologischen Sinne teilt nicht die übliche Funktion des Begriffes als Ausdruck des Selbstbewußtsein der okzidentalen Gesellschaften. Um Zivilisation im soziologischen Sinne zu verstehen, muß man sich von der alltäglichen, mit heteronomen Wertungen beladenen Konnotationen des Begriffes distanzieren. Als ein mehrere Generationen umfassender Prozeß weist der Begriff auf eine strukturierte Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in eine ganz spezifische Richtung hin. Dieser Prozeß ist immer begleitet von Gegenschüben. Sie vollzieht sich als Ganzes ungeplant; aber sie vollzieht sich nicht ohne eine eigentümliche Ordnung. Als eine gerichtete Veränderung des sozialen Habitus der Menschen zeigt Norbert Elias in seiner Untersuchung, "wie etwa von verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierter Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühlen belegt werden, wie die Regelungen des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird." (Elias, 1976, II, S. 313).

[32] Nativistische Bewegungen von Menschen charakterisieren sich durch demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte, während der Chiliasmus ihre aktivierbare kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung paradiesischer Glückszustände bezeichnet. (Vgl. Gholamasad 1985, S.583ff. und Mühlmann 1961)

[33]Vgl. Klaff 1987

[34]Die Dramatik dieser sozialen Differenzierung kann nur dann angemessen erfaßt werden, wenn die Jahrhunderte währende relative Stagnation gesellschaftlicher Entwicklung berücksichtigt wird.

[35] Gholamasad 1997, S. 367ff

[36]Vgl. Gholamasad 1985

[37]Konfessionelle Konflikte verschärften sich im Iran aufgrund der relativen Zunahme der Machtchancen von Bahais, Juden und Christen gegenüber den Muslimen im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft. Abgesehen von den Bahais, die sonst als Häretiker verfolgt wurden, sind es alles konfessionelle Gruppen, die einst den Muslimen respektvoll begegnen mußten. Nach Kämpfers Reisebericht, der sich Ende des 17. Jhs. für mehrere Jahre im Iran aufhielt, mußten sie sogar von ihrem Pferd oder Esel absteigen, wenn sie einem Muslim auf der Straße begegneten, um seine soziale Überlegenheit zu bestätigen. Sie mußten sogar die Straßen meiden, wenn es regnete, weil die Möglichkeit der Verunreinigung der Muslime bestanden hätte, wenn das Regenwasser an ihrem Körper abprallte. (Vgl. Kämpfer 1940)

[38]Vgl. Elias 1986, S. 70/72

[39]Vgl. Elias 1987a, S. 281

[40] Vgl. Gholamasad 1993, S.394ff.

[41]Vgl. Nahost Jahrbuch 1988, S. 77

[42] In der Hierarchie der schiitischen Geistlichkeit steht in seltener Ausnahme ein von allen Gläubigen einmütig anerkannter Großayatollah an der Spitze. Er würde in diesem Fall die einzige “Instanz der Nachahmung” sein. Die Gläubigen würden bei der Lösung ihrer Alltagsprobleme ihm als Vorbild folgen und sich in ihrer sozialen Praxis nach ihm orientieren. Fehlt eine solche, alle anderen überragende Autorität, folgt man einem der Großajatollahs als einer selbstgewählten “Instanz der Nachahmung”. Seit dem Ableben des Großajatollahs Brourujerdi (1961) befinden sich die Gläubigen in einer solchen Lage. Den Großajatollahs folgen in der Rangordnung die in ihrer Anzahl ständig wachsenden Ajatollahs. Nach ihnen steht die noch größere Zahl der Hojjat ol-Eslam, gefolgt von der Masse der einfachen “Turbanträger”.

[43]A. Schirazi hat seit Jahren die Entwicklung der nachrevolutionären Verfassung und den damit einhergehenden theologischen Diskurs verfolgt und in drei Beiträgen veröffentlicht. Seine Forschungsergebnisse, die verfügbaren Quellen wie Parlamentsprotokolle und die wichtigsten Tageszeitungen berücksichtigen, sind eine Fundgrube für eine herrschaftssoziologische Untersuchung. Die folgenden Informationen über die Revision der Verfassung und vor allem den damit einhergehenden Diskurs stammen vor allem seinem 1991 veröffentlichten Beitrag.

[44]Resalat, 30.4. bis 8.05.89

[45]Resalat, 11.5.89

[46]Vgl. Resalt, 3.04.89

[47]Ettela'at, 10.06.89

[48]Vgl. Keyhan, 12.06.89

[49]Vgl. Aj. Azari Qomi u.a. in Resalat vom 10. und 21.06.89

[50]Vgl. Keyhan, 20.06.89

[51]Aj. Jennati in Ettela'at am 2.06.83

[52]Nahost Jahrbuch 1988, S. 75

[53]Vgl. Resalat, 6.6.89

[54]Vgl. Keyhan, 10.6.89 und 19.6.89

[55]Vgl. Rafsanjani, in Keyhan, 19.6.89 und 10.6.89

[56]Vgl. Resalat, 27.6.89

[57]Vgl. Resalat, 29.4.89

[58]Vgl. Resalat, 7.4.89

[59]Vgl. Keyhan, 13.5.89

[60]Vgl. Resalat, 6. u. 10..5.89