Warum es lohnenswert ist, sich für das Völkerrecht einzusetzen und dies der wirkungsvollste demokratische anti-imperialistische Kampf ist

mehriran.de - Was wird mit Iran? Welche Rolle spielt die Opposition? Welche Rolle könnte sie spielen? Was bedeutet es vor allem für politisch links verortete Bürger und Bürgerinnen sich für die Anwendung des Völkerrechts im Fall Irans einzusetzen? Durch welche Geisteshaltung lässt sich Krieg mit Iran verhindern und dennoch wie lässt sich das Regime dazu bewegen die Rechte seiner Bevölkerung zu respektieren und zu schützen? Prof. D. Gholamasad schreibt hier als langjähriger Beobachter der gesellschaftspolitischen Ereignisse in Iran und als Soziologe über die Notwendigkeit das Völkerrecht zur Geltung zu bringen.


 

„Handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du zugleich wollen kannst,
dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
(Kant)[1]

 

In diesem Beitrag möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Handlungsstrategien der üblicherweise reaktiven Opposition Irans ändern müssen. Ich zeige auf, wie die Opposition mit ihrer Pro-Aktivität eher emanzipativ wirken könnte, anstatt ungewollt ideologische und politische Hilfestellung für das Regime in Teheran zu bieten, wie diesem Effekt zuweilen bei Anti-Kriegsaufrufen zu begegnen ist. Das bedeutet keineswegs eine Billigung der völkerrechtlich unzulässigen Kriegsandrohungen der USA, die im Namen der regionalen Stabilität ihren eigenen globalen Hegemonialansprüchen Geltung verschaffen wollen. Die Verurteilung und Verhinderungen solcher aggressiven außenpolitischen Strategien ist nur möglich, wenn man die eigene Doppelmoral aufgibt und die völkerrechtswidrige aggressive Außenpolitik der „Islamischen Republik“ zugleich verurteilt, die die selbst beanspruchte „territoriale Integrität“ anderer Staaten nicht respektiert. Die intendierte Verhinderung der „Katastrophe für den Iran und die Welt“ wäre nur dann effektiv, wenn man sich selbst und die potentiellen Kriegsparteien aufforderte, nach Kants „kategorischem Imperativ“ zu handeln: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“[2]


Denn die potentiellen Kriegsparteien bedingen sich gegenseitig in ihrer Feindseligkeit, selbst wenn die bestehende Machtbalance zugunsten der machtstärkeren USA neigt. Gerade deswegen wäre wenigstens aus pragmatischen Gründeneine völkerrechtlich verpflichtete außenpolitische Ausrichtung der Machtschwächeren noch mehr geboten, wenn die Sicherheit ihres Landes und dessen „territoriale Integrität“ gewährleistet werden sollte. Eine solche Sicherheit erfordert aber pro-aktive– d.h. eine durch differenzierte Vorausplanung und zielgerichtetes Handeln die Entwicklung des politischen Geschehens selbst bestimmende und die Sicherheit des Landes herbeiführende – außenpolitische Bemühungen der Opposition. Diese Pro-Aktivität unterscheidet sich als initiatives Handeln von dem sonst abwartenden oder reagierendenHandeln der Opposition. Als eine Bereitschaft zum Frieden bedeutet eine pro-aktive Politik auch eine besondere Bejahung des friedenspolitischen Handelns als eine Werthaltung. Diese setzt aber nicht nur einen weltbürgerlichen Gemeinsinn, d.h. Verständnis und Einsatzbereitschaft für die Menschheit voraus; sondern auch einen Rechtssinn, d.h. einen Sinn für Recht und Unrecht auch in zwischenstaatlichen Beziehungen. Sie beide sind aber zivilisatorische Aspekte einer inner- und zwischenstaatlichen Demokratisierung, die sich manifestiert in:

 

1.)    der Erweiterung der Reichweite der Identifizierung mit Menschen jenseits bestimmter Gruppenzugehörigkeit und

 

2.)    der Bereitschaft zur Suspendierung von Gewalt als Regulationsprinzip der innen- und zwischenstaatlichen Beziehungen. 

 

Die außenpolitische Orientierung der iranischen Opposition ist aber in der Regel entweder islamisch Nativistischoder Territorialstaatlich geprägt; sie ist nicht einmal Nationalstaatlich geschweige denn Humanistisch. Diese Ausrichtungen haben erhebliche Konsequenzen. Vor allem verschaffen sie dem theokratischen Regime immer die Möglichkeit, in ihren Krisensituationen, ihre selbstverschuldete außenpolitische Bedrohung als Gefahr für die „nationale“ oder „territoriale Integrität“ hochzustilisieren. Dabei werden das Bedürfnis nach kollektiver Hervorhebung der als islamisch definierten Werte der Muslime und das kollektive Schutzbedürfnis der Iraner im Allgemeinen für die Selbstverteidigung der klerikalen Herrschaft instrumentalisiert. Dies obwohl die Islamisten nur die hypostasierte „Gemeinschaft der Muslime“ anerkennen und keinen Sinn für nationalstaatliche Integrität der Iraner haben. Ihre „Gemeinschaft der Muslime“ ist deswegen hypostasiert, weil sie eine vergegenständlichte Gestalt einer Konstruktion von etwas nicht Existierendem ist. Deswegen können die Muslime auch ihre zahlenmäßig größten Opfer auf dem Weg der Verteidigung dieser vermeintlichen Gemeinschaft sein, wie wir in der Praxis erleben. Auf der anderen Seite ist der „Nationalstaat“ bei ihnen als unislamisch verpönt, weil er ihrer konstruierten Gemeinschaft der Muslime als theokratischem Herrschaftsbereich Grenzen setzt. Deswegen war 1953 die Kooperation der Islamisten unter der Führung von Ajatollah Kaschanie mit den USA im CIA-Putsch gegen die erste und bis jetzt letzte demokratische Regierung Mossadeghs notwendig, weil sie mit der Demokratisierung eines nationalstaatlich organisierten Irans unter einem verfassungspatriotischen Ministerpräsidenten eine Gefahr für den Islamismus sahen. Für die Islamisten bedeutete die Demokratisierung des nationalstaatlich organisierten Irans und der folgende verstärkte politische Einfluss der Tudeh-Partei, drohende Gefahren, weswegen sie einen CIA-Putsch pro-aktiv begrüßten. Damit wurde die erste nationalunabhängige demokratische Regierung Irans mit Hilfe der Islamisten unter der Führung Kaschanis und Chomeinis Billigung gestürzt. Ajatollah Chomeini hat den Patrioten Mossadegh nach der Revolution sogar post festum exkommuniziert, obwohl er nicht einmal am Leben war. Es ist daher eine unverschämte Verlogenheit, wenn die Chomeiniisten heute als Grund ihrer Feindseligkeit gegen den „großen Satan“ den CIA-Putsch als eine unverzeihbare US-Intervention in Iran zitieren. Dies obwohl sie ohne die Neutralisierung der iranischen Armee durch die US-Unterstützung nicht so leicht die Macht hätten ergreifen können. Was sie allerdings fürchten ist eine erneute „Verwestlichung“ des Alltagslebens Irans, die einer Öffnung folgen könnte. Dass die Verteufelung der USA eine Rationalisierung der eigenen Ängste der zutiefst unsicheren Islamisten reflektiert, verdeutlicht ein Vergleich mit Vietnam. Wenn die erlittenen Leiden ein Grund ewiger zwischenstaatlicher Feindseligkeit sein sollten, müssten die Vietnamesen mit ihren unvorstellbaren Kriegsleiden nie eine Normalisierung der Beziehungen zu ihrem Erzfeind USA anstreben wollen. Sie denken aber im Unterschied zu iranischen Islamisten nationalstaatlich. Deswegen suchen sie nach ihrer nationalen Befreiung eine Kooperation mit dem einstigen Erzfeind, von der sie eine Förderung ihres Gemeinwohls erwarten. Für die iranischen Islamisten ist aber nicht das Gemeinwohl der Iraner in der Priorität ihrer Handlungsstrategie; sondern die Expansion des islamischen Territorialstaates, für die Iran nur ein Sprungbrett ist. Deswegen betrachten sie alle extraterritoriale Gebiete als „Feindesland“, zu dessen Unterwerfung sie sich religiös verpflichtet fühlen. 

 

Getragen von einer Aufbruchsbereitschaft der Menschen zur Herstellung paradiesischer Glückzustände auf Erden (Chiliasmus) und ihrem Bedürfnis nach demonstrativer Hervorhebung ihrer als islamisch definierten Werte (Nativismus) gegen „Verwestlichung“ des Alltagslebens, gewannen die Islamisten die hegemoniale Führung in der Revolution und eroberten mit Hilfe der bei der „Guadeloupe Konferenz“ anwesenden westlichen Regierungen die Staatsmacht. Gedacht war dabei an die Errichtung eines antikommunistischen Bollwerks an der Grenze der noch existierenden Sowjetunion auf Kosten der demokratischen Opposition im Iran, die mit der zeitlichen Verlängerung des Aufstandes an Einfluss gewinnen hätte können. Doch die Islamisten hätten keine Chance gehabt, die Revolution zu dominieren, die Staatsmacht zu erobern und zu monopolisieren, wenn sie nicht von einer chiliastisch geprägten nativistischen Bewegung der Massen getragen gewesen wären. Diese Massenbewegung entstand als Folge eines vom „Westen“ unterstützten wachstumsorientierten Modernisierungsprozesses unter der verfassungsmäßig illegitimen „aufgeklärten Diktatur“ des Schahs, der jede institutionelle Demokratisierung und damit zusammenhängende Nationalstaatenbildung zugleich unterdrückt hatte. Die Folge war eine relativ unterentwickelte und geknebelte demokratische Kultur, die dominiert wurde durch die politisch erlaubte islamisch geprägte Kultur der schiitischen Geistlichkeit als ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der funktional modernisierten Iraner. Die nationalstaatlicheEntwicklung hinkt daher immer noch hier der territorialstaatlichen Entwicklung hinterher, weswegen auch der islamische Nativismus oder die territorialstaatliche außenpolitische Orientierung der Opposition immer noch über nationalstaatlich Orientierte dominiert und für die Systemsicherung des Regimes instrumentalisierbar ist. In diesem Sinne ist sie ein Nachhinkeffekt ihres sozialen Habitus, angesichts der zunehmenden Globalisierungsprozesse und der damit einhergehenden Verlängerung und Verdichtung der funktionalen Interdependenzen der Menschen. Die „Islamische Republik“ ist auch deswegen ein Nachhinkeffekt des sozialen Habitus der Islamisierung der Revolution, die zur Entstehung und Etablierung der klerikalen Herrschaft führte. Sie ist ein Nachhinkeffekt:

 

1.)    des Bürgersinns, d.h. von Verständnis und Einsatzbereitschaft für Gemeinwohl des Staatsvolks ohne jegliche Diskriminierung,

 

2.)    des Rechtssinns, d.h. einen Sinn für Recht und Unrecht in innen- und zwischenstaatlichen Beziehungen,

 

3.)    des Gerechtigkeitssinns, dersich als eine Art Gerechtigkeitsmacht in Bürgerinitiativen manifestieren könnte, die sich den bestehenden Machtverhältnissen entgegensetzten und entsprechende Demokratisierung der Verfassungen und Verfassungswirklichkeit anstreben könnte – nicht nur national, sondern auch regional und global mit dem Ziel des Abbaus von Privilegien und Diskriminierungen. Dazu ist nicht nur Zivilcourage notwendig sondern auch

 

4.)    Urteilskraft, d.h. die Fähigkeit zu beurteilen, wie sich bei der zielgerichteten Verfolgung der Gerechtigkeit die Forderung nach gerechteren Gesetzen, die normativen Vorgaben einer demokratischen Verfassung mit den jeweiligen Sachkompetenzen unter wechselnden Rahmenbedingungen vermitteln lässt. 

 

5.)    Gemeinsinn oder Solidarität mit anderen Menschen, die eine entsprechende Erweiterung der Reichweite der Identifizierung der Menschen mit anderen Menschen jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit voraussetzt. Dies würde sich manifestieren in 

 

6.)    Demokratischer Integrität als unabdingbarer personaler Bedingung einer Demokratisierung der inner- und zwischenstaatlichen Beziehungen der Menschen, die sich als Rechtsgenossen erleben und sich im grenzenlosen Einsatz für Menschenrechte manifestiert. Das Ethos der Menschenrechte ist Ausdruck dieser weltweiten Entwicklung demokratischer Integrität der Menschen, der sich die iranische Opposition anschließen müsste.

 

Zu Selbstwertrelevanz der politischen Schuldzuweisungen 

 

Man könnte einwenden, dass der iranischen Opposition angesichts der bestehenden Herrschaftsverhältnisse unüberwindbare Grenzen gesetzt sind, dass nicht nur innenpolitische sondern auch außenpolitische Entscheidungen im Iran nicht einmal im Kompetenzbereich des Präsidenten oder des Außenministers liegen. Der einzige, der darüber zu entscheiden habe, ist der „Revolutionsführer“ mit uneingeschränkter Richtlinienkompetenz

 

Man möchte dieser Opposition zurufen: Dann setzt dieser „Alleinherrschaft“ ein Ende, anstatt deren ausgeübte außenpolitische Strategie als defensiv zu rechtfertigen. Hört auf, die Expansion des Einflussbereiches der „Islamischen Republik“ als eine „Vertiefung des verteidigungsstrategischen Raums“ zu verklären, weil man die Feinde extraterritorial bekämpfen will. Auch die USA verteidigen ihre eigenen Interessen weltweit. Wer den Imperialismus der „Islamischen Republik“ als pragmatische Verteidigungsstrategie entschuldigt, hat kein Recht den US-Imperialismus zu verteufeln! 

 

In der Tat ist der „Führer“ die einzige Entscheidungsinstanz, dessen Vollzugsorgane der Präsident und alle andere Funktionsträger wie Außenminister sind. Für ihn ist es anscheinend eine unverhandelbare  „Ehrensache“, das Reich Gottes pflichtgemäß zu expandieren, „bis Aufruhr behoben ist“ (Ta raf-e Fitna تا رفع فتنه)[3], welche der „Auferstehung“ vorausgehe. So bezog sich auch Ajatollah Chomeini seinerzeit, bei der Rechtfertigung der Fortsetzung des Iran-Irak-Krieges „bis zum Sieg“,auf eine diesbezüglich überlieferte Position Mohammads. Wobei für ihn der Sieg über Saddam Husein nur ein Etappensieg bedeutete, solange die „Anarchie“im Sinne der Missachtung der Gesetze Gottes bestehe. So hat er auch die Notwendigkeit „des Islamischen Staates“ mit dem religiösen Gebot der Wiedereinführung der ewig geltenden „Gesetze Gottes“ begründet, wozu auch Kriege notwendig seien[4]. Denn „nach dem Koran sind die Gesetze des Islam nicht an Zeit und Raum gebunden. Sie sind ewig gültig, und ihre Anwendung ist immer Pflicht.“[5]

 

Mit diesem Wesensmerkmal der „Islamischen Republik“ als „Vaterland der Gläubigen“ (Ommol-Ghora) und als Ausgangspunkt der religiös gebotenen weltweiten Etablierung der göttlichen Herrschaft, entstehen unüberwindbare Zielkonflikte nicht nur im Nahen und Mittleren Osten sondern auch zwischen hegemonialen Ansprüche der klerikalen Herrschaft im Iran und dem absoluten Hegemonialanspruch der USA, die zur Verteidigung ihrer Interessen und die ihrer Verbündeten, Israel und Saudi-Arabien u.a., gegenwärtig eine unverantwortlich gefährliche militärische Drohkulisse aufbauen. Damit handeln beide Seiten völkerwidrig, was verurteilt und möglichst unterbunden werden sollte. Von daher ist eine einseitige Verurteilung der USA nicht nur scheinheilig; sie ist auch kontraproduktiv, weil sie einem tief verwurzelten Aspekt des sozialen Habitus der Iraner, vor allem der islamisch geprägten Iraner Vorschub leistet: Ihre „Opfermentalität“, die sich durch die ungerecht empfundene Unterwerfung der Schiiten unter dominant gewordene Sunniten bei der Auseinandersetzung um die Nachfolgerschaft Mohammads und später durch die semikolonialen Erfahrungen tief im Seelenhaushalt der Iraner eingeprägt hat. Zumal die „Opfermentalität“ der Schiiten durch die meisterhaft perfektionierten Liturgien und ritualisierten Trauerfeiern um das Martyrium Husseins - dem 3. schiitischen Imam und Sohn Alis, als dessen Parteigänger sich die Schiiten begreifen – tief in ihrem sozialen Habitus verankert ist. Damit ist die Schuldzuweisung ein unverzichtbarer Bestandteil der iranischen Glaubensaxiome und Werthaltungen: „die Anderen sind an allem schuld”. Dieser Charakterzug der Iraner wurde in  dem 1971 in Teheran veröffentlichten „Comic-Roman“, „Mein Onkel Napoleon“ von Iraj Mekizzad,meisterhaft nachgezeichnet. Es hält den Iranern einen Spiegel vor, und verspottet humorvoll Charaktere der iranischen Gesellschaft, vor allem den von „Onkel Napoleon, der hinter allem eine Konspiration der „Engländer“ sieht. Diese „Opferrolle“ prägte auch alle „antikolonial“ und „anti-imperialistisch“ geprägten Glaubensaxiome und Werthaltungen der Iraner in verschiedenen ideologischen Formen, die ihre Entscheidung über die nachrevolutionäre Herrschaftsform determinierte. Sie waren daher eher geneigt, sich einem „anti-imperialistischen“ Führer zu unterwerfen als unter der Herrschaft des Rechtes in einem Rechtsstaat. Gemeinsam ist ihnen allerdings dieempfundene „Opferrolle“, weil sie sich alle inner- und zwischenstaatlich ungerecht behandelt und notorisch benachteiligt fühlten. So befriedigten sie nach der Revolution ihre Rachegefühle und bändigten zugleich ihre Ängste vor der möglichen Rückkehr des erfahrenen Unrechts. 

 

Diese selbstwertrelevante politische Handlungsorientierung setzt aber keinen Rechtssinn voraus, sondern das Recht des  Siegers, der die erlebten Verhältnisse als Leidensgenosse umzukehren anstrebt. Dabei ist die selbstwertrelevante Opferrolle bequem und angenehm, weil nur die „anderen“ schlichtweg an allem schuld sind; man braucht sich keine Gedanken zu machen über die eigene Rolle als Einzelne und Gruppen und schon gar nicht sich mit Selbstzweifeln zu beschäftigen. Denn die Schuldzuweisungen beziehen die Menschen nie auf sich selbst, sondern immer auf andere Menschen als Einzelne und Gruppen oder auf ungünstige Umstände. Kurzfristig kann daher die empfundene Opferrolle seelische Linderung verschaffen, langfristig ist sie allerdings Gift für Menschen als Einzelne und Gruppen - vor allem, wenn sie ihre innen- und außenpolitische Orientierung bestimmt.

 

Doch die selbstwerterhöhenden Schuldweisungen im Alltagsleben und in der Politik haben zwar gewisse unverzichtbare Funktionen, weil man sich vor allem von jeglicher Selbstverantwortung befreit aber zugleich jegliche Selbstveränderung blockiert. Man fühlt sich zwar besser als die anderenverliert aber nicht die eigenen Minderwertigkeitsgefühle und das fragile Selbstbewusstsein als Voraussetzung der Opferrolle.Man kann freilich mit der Opferrolle die eigenen negativen Gefühle auf andere projizieren, um keine Eigenverantwortung übernehmen zu müssen.Man verpasst aber damit die Chance, Selbstverantwortung und Selbstständigkeit zu erlernen. Deswegen ist jede selbstwerterhöhende innen- und außenpolitische reaktive Handlungsstrategie auf lange Sicht kontraproduktiv. Selbst, wenn sie eine bequeme und angenehme Lösungsstrategie für bestehende „kognitive Dissonanz“ ist. Produktiv wäre es in der Tat, vor allem die eigenen Glaubensaxiome und Werthaltungen zu revidieren - anstatt durch einseitige selbstwertdienliche Schuldzuweisungen den eigenen unangenehmen Gefühlszustand - ja gar berechtigte Ängste - vor außenpolitischen Katastrophen überwinden zu wollen. Die Voraussetzung dafür ist ein Rechtssinn, damit man die Welt nicht mehr einäugig sehen kann. Aber bevor man siehtschaut man. Deswegen ist eine gerechte und realitätsangemessene (Welt-)Anschauung die unabdingbare Voraussetzung einer pro-aktiven friedensdienlichen außenpolitischen Strategie. 

 

Hannover, den 06.06.2019

 

© mehriran.de 2019

 

Anmerkung der Redaktion:

Wer sich schon mit der aktuellen Situation in Iran beschäftigt und einen gewissen historischen Überblick über das Land hat, wird den Ausführungen von Prof. Gholamasad auch im Zusammenhang mit seinen in den letzten Wochen erschienenen Artikeln interessante Aspekte abgewinnen können.


[1]Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Bd. VII, Wissbaden 1956, S. 140 (A54)

[2] Ibid.

[3]Der Begriff „Fitnah“ wird speziell für jene Unruhen und Auseinandersetzungbenutzt, die der Auferstehung,„den letzten Tag“  vorausgehen sollen. (vergl. Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, München 2000, S. 199. 

[4]S. Ajatollah Chomeini, Der Islamische Staat, Berlin 1983, S. 24 ff.

[5]ibid., S. 33