Ziviler Ungehorsam und Zivilcourage als Strategie und Taktik

 

Der Weg ist das Ziel“

 

Unter einer Revolution versteht man in der Regel einen gewaltsamen Umsturz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Gewaltsam wird diese strukturelle Veränderung, weil die Etablierten die Erosion und Infragestellung ihrer Legitimation nicht akzeptieren. In dem Moment, in dem die Unteren nicht mehr wollen und die Oberen ihre Herrschaft mit allen Mitteln behaupten wollen, werden sie im Namen der „nationalen Sicherheit“ gewalttätig. In einer Gesellschaft, in der die Gewalt als Regulationsprinzip sozialer Beziehungen kultiviert wird, kann dies zu Eskalationen führen. Es hängt also vom Grad der Zivilisierung einer Gesellschaft ab, ob und inwieweit die erwachten „Unteren“ bereit sind, sich den diktierten gewaltsamen Kampfformen zu beugen.

 

Mit der gleichmäßigen Zunahme der Selbstkontrolle der Bürger wird ein ziviler Ungehorsam als Form der Ablehnung der Pflicht des Gehorsams gegenüber illegitimer staatlicher Autorität nahegelegt. Denn kein Mensch hat das Recht zu gehorchen (Kant). Mit der aktiven, gewaltlosen Weigerung, das Diktat von Regierungen zu akzeptieren kann ein Mensch die Regierenden wissen lassen, dass man sich ungerechtem Handeln in den Weg stellen und notfalls Gesetze übertreten wird. Damit wird nicht nur ein Recht auf Widerspruch aktiv in Anspruch genommen, sondern auch eine Politisierung des Rechts und eine Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse angestrebt. So führt ziviler Ungehorsam als Betonung des Rechtsanspruchs auf Widerspruch zu einer weiteren Demokratisierung der Gesellschaft und Zivilisierung der involvierten Menschen im Sinne ihrer zunehmenden gleichmäßigen Selbstkontrolle.

 

Aus diesem Grund ist ziviler Ungehorsam nicht nur als eine Taktik, sondern auch als Strategie ein Gebot der Stunde, weil eine Demokratisierung ohne Zivilisierung der Staatsgesellschaft unmöglich ist. Zum unabdingbaren Bestandteil der Zivilisierung gehören die Suspendierung der Gewalt aus dem Alltagsleben der Gesellschaft und ihre Kasernierung als Mittel der Landesverteidigung. Denn als eine neue soziale Organisationsform der Menschen ist der Staat eine Schutz- und Trutzeinheit nur durch die Monopolisierung der legitimen Gewalt und der Steuererhebung.

 

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Die „Islamische Republik“ entstand als eine Gewaltherrschaft und Schreckensherrschaft der Geistlichkeit, die sich durch gewaltsame Expansionsversuche und unbarmherzige Unterdrückungsmechanismen jeglicher Opposition etablieren konnte. Der sich als Stellvertreter Gottes legitimierende Alleinherrscher monopolisierte nicht nur die Gewalt und Steuererhebung, sondern beansprucht neben allen sonstigen Machtquellen das Recht über das Leben und den Tod jedes seiner Untertanen im Namen Gottes. Als eine Art Besatzungsmacht in der Tradition der Eroberungskriege Mohammads glaubt die klerikale Herrschaft es sei eine Großzügigkeit, wenn sie keinen Anspruch auf die Frauen erhoben haben: „Seid froh, dass wir eure Frauen nicht enteignet haben“, sagte einer der Mullahs. Als eine Besatzungsmacht suspendierte und kasernierte sie nicht nur die Gewalt nicht, sondern militarisierte das Alltagsleben. Darüber hinaus mobilisierte sie ihre gewaltbereiten Gefolgsleute jüngst sogar mit absoluter „Feuerfreiheit“ im Alltagsleben. Sie hätten freie Hand in „standrechtlicher“ Sanktionierung der klerikalen Herrschaft im Alltagsleben. Sie glaubt, nur so ihre Gewaltherrschaft aufrecht erhalten zu können. Zumal die Aufrechterhaltung der klerikalen Herrschaft schon seit Khomeinis Herrschaft zur absoluten Priorität jeder Staatstätigkeit erhoben wurde, selbst wenn die obersten Gebote des Islams vorübergehend suspendiert werden sollten.

 

Angesichts der brutalen Bereitschaft der Herrschenden, ihre Macht mit allen Mitteln zu behaupten, mahnen die „Reformisten“ vor einem drohenden „syrischem Schicksal“ eines Widerstandes. Diese Warnung derjenigen, die in der Landesverteidigung gegen Saddams Invasion tausende von Jugendlichen wie Vieh über die Minen trieben, klingt wie Hohn. Als ob die Selbstverteidigung der einzelnen Bürger gegen die einheimische Besatzungsmacht weniger wert sei als die Landesverteidigung gegen Saddam Husain. Menschen dürften demnach ihr Leben nur für die Verteidigung der klerikalen Herrschaft opfern, nicht aber für ihre Menschenrechte und Menschenwürde. Als ob es einen Unterschied macht, wer sie unterwirft und ihre Menschenwürde tagtäglich verletzt. Außerdem glauben sie, dass angesichts der Entschlossenheit des Regimes in der Unterdrückung jeglicher Regung dem erwachten Staatsbürger nur eine gewaltsame Form des Widerstandes zur Verfügung stehe. Phantasielos übersehen sie die wirksamste Form des Kampfes, die schon Frauen durch ihren zivilen Ungehorsam seit der Entstehung dieses Unrechtsstaates praktiziert haben. Diese Kampfform konnte bis jetzt anscheinend aus zwei Gründen nicht erfolgversprechend sein – wenn überhaupt.

 

Erstens, weil sie durch die unverzichtbare Zivilcourage anderer nicht flankierend unterstützt wurde. Zweitens, weil sie noch nicht verallgemeinert und von allen anderen Gruppen praktiziert wurde. Beides setzt ein mehr oder weniger entwickeltes Gewissen und damit ein Ethos der Menschenrechte voraus. Nur so entsteht eine Ausweitung der Reichweite einer Identifizierung der Menschen miteinander jenseits ihrer Gruppenzugehörigkeit als Voraussetzung einer bürgerlichen Gesellschaft der Menschen in Freiheit. Dazu bedürfen sie keines charismatischen Führers über den sie sich miteinander identifizieren.

 

Ziviler Ungehorsam und Zivilcourage konstituieren eine Zivilgesellschaft

 

Ziviler Ungehorsam ist nicht nur eine Form politischer Partizipation, sondern gilt zugleich auch als Geburtsstunde der Staatsbürger, ohne die es keine bürgerliche Gesellschaft geben kann. Er setzt das Rechtsbewusstsein der Menschen voraus, die die Legitimationsgrundlage der auf Diskriminierung basierenden klerikalen Herrschaft aktiv in Frage stellen. Denn jede Herrschaft besteht, solange die Beherrschten sich beherrschen lassen. Ihre faktische Weigerung ist der Anfang vom Ende jeder Herrschaft.

 

Dies erfordert in der „Islamischen Republik“ die Ersetzung Gottes als einen Gewissensersatz der Gläubigen durch ein neu hervorgerufenes Gewissen der sich zum Staatsbürger entwickelnden „Untertanen Gottes“. Ohne diese neu erworbene Art und Weise, in der sich das Wertgefühl im Menschen Geltung verschafft, ist eine Herrschaft im Namen Gottes nicht überwindbar. Im diesem Sinne entsteht das neu gebildete Gewissen als sittliches Bewusstsein von Gut und Böse, von Recht und Unrecht der sich zum Staatsbürger entwickelten Gläubigen als einstiger Massenbasis der klerikalen Herrschaft.

 

Die Entstehung dieses Gewissens ist die unbeabsichtigte Folge der klerikalen Herrschaft im Namen Gottes, die jegliche Selbstbestimmung der Menschen faktisch in Frage stellt. Das bedeutet aber keineswegs eine Aufhebung der Religiosität der Menschen. Es handelt sich um die Zivilisierung ihrer Glaubensaxiome und Werthaltungen im Individualisierungsprozess der Gesellschaft. Dieses neu erworbene Gewissen ist ein weiteres Bindungselement der Menschen als rechtmoralisch gleicher Staatsbürger in einer zunehmend sozial differenzierten Gesellschaft. Auch in diesem Sinne bedürfen sie keines charismatischen Führers als Integrationsfigur, mit dem sie sich als Ersatz ihres gemeinsamen Gewissens identifizieren sollen.

 

Der zivile Ungehorsam entsteht mit dieser Gewissensbildung in Aktionen angesichts der Erfahrung der Unterdrückung und Diskriminierung im Namen Gottes. Durch einen symbolischen, aus Gewissensgründen vollzogenen und damit bewussten Verstoß gegen die rechtlich sanktionierten Obrigkeitserwartungen, zielt der selbstbewusste Staatsbürger mit seinem Akt zivilen Ungehorsams auf die Aufhebung des erfahrenen Unrechts und betont damit sein moralisches Recht auf staatsbürgerliche Partizipation und Aufhebung der Diskriminierung. Die normativen Erwartungen der Herrschenden können sich durch vorgeblich islamisch legitimierte Gesetze, Pflichten oder auch Befehle des Herrschers im Namen Gottes oder seiner Büttel manifestieren. Durch den symbolischen Verstoß zur Überwindung des Unrechts wird zugleich Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung genommen.

 

Die Gleichgerichtetheit der Öffentlichkeit, die sich aus dem gemeinsam geteilten Objekt der Hingabe der Menschen und Bezugsrahmen ihrer Selbsterfahrung ergibt, ersetzt jeden charismatischen Führer als Orientierungsmittel der Menschen. Die Frauen haben seit der Entstehung der „Islamischen Republik“ vielfach gezeigt, wie zielführend ihre Opferbereitschaft für ihre gemeinsame Emanzipation ist. Sie verfügen über keine richtungsweisende Integrationsfigur. Sie sind auch bereit die Folgen ihres zivilen Ungehorsams zu tragen.

 

Zum immanenten systemüberwindenden Dynamik des zivilen Ungehorsams

 

Diese Frauen nehmen, wie jeder Gehorsamsverweigerer, dabei bewusst in Kauf, auf der Basis der geltenden Gesetze für ihre Handlungen bestraft zu werden, weswegen sie als Helden gefeiert werden. Dabei beanspruchen sie ein moralisches Recht auf Widerstand für sich. Damit handelt es sich zunächst um die Durchsetzung ihrer Bürger- und Menschenrechte innerhalb der bestehenden Ordnung. Dieser erwartungswidrige Akt des Ungehorsams richtet sich folglich, aufgrund der Weigerung der Etablierten, auf eine Überwindung der bestehenden klerikalen Herrschaftsstruktur. Dies ist der Hauptgrund der unverhältnismäßigen Reaktion der Etablierten gegen jeden zivilen Ungehorsam, die rückwirkend die Legitimationsgrundlage der Herrschaft erschüttert. Dies vollzieht sich jedoch landesweit ohne jegliche charismatische Führungspersönlichkeit.

 

Die Methoden und Aktionsformen von zivilem Ungehorsam ergeben sich aus dem wahrgenommenen Unrecht. Diese Unrechtserfahrungen geben ihre Richtung und Richtungsbeständigkeit vor. Es kommt darauf an, ob man die Unrechtssituation als solche erkennt und diese als unakzeptabel empfindet. Solange die Menschen jede Unrechtssituation nur als Unzulänglichkeit beklagen, ohne sich dagegen zu wehren, entsteht keine Änderung. Jeder Abwehrkampf setzt aber einen rechtsmoralischen Anspruch voraus.

 

Selbst ohne einen vertragsrechtlichen Anspruch wäre kein Mensch bereit, eine unsachgemäße private Dienstleistung zu tolerieren. Nur mit einem Rechtsanspruch würde man sich weigern auch in solchen Fällen die geforderte Rechnung zu begleichen. Warum wird dies dem Staat als größtem Dienstleister im Iran nicht verweigert? Das geschieht, weil dafür kein allgemein bewusster Rechtsanspruch der Staatsbürger entstanden ist. Das Gleiche gilt für unterbezahlte oder gar kostenlose Arbeit für private und staatliche Arbeitgeber, solange kein rechtsmoralischer Anspruch entsteht. Diese Ansprüche kann kein charismatischer Führer herbeizaubern, wie die selbstorganisierten Protestbewegungen der Arbeiter im ganzen Land zeigen. Selbst ihre Unterdrückung und die Verhaftung ihrer Führer konnten sie nicht dazu zwingen, ihre Forderungen aufzugeben, weil sie existentiell und berechtig sind. Aus diesem Grunde können sie nur die Formen ihres Kampfes ändern. Diese legen u.a. passive Formen des Widerstandes nahe. Dazu gehören u.a. der „Dienst nach Vorschrift“ als eine mögliche Form des Widerstandes bis hin zum Streik.

 

Zivilcourage und unterlassene Hilfeleistung

 

Die iranischen Frauen haben seit der Entstehung der „Islamischen Republik“ sehr deutlich vorgeführt, wie verschiedene Formen zivilen Ungehorsams aussehen können. Ihr Widerstand gegen die verordnete alltägliche Verletzung ihrer Menschenwürde wäre jedoch nur erfolgreich, wenn sie massenhaften Charakter annehmen würde. Dazu ist Zivilcourage vorausgesetzt. Diese beginnt mit der Überwindung der üblichen „unterlassenen Hilfeleistung“ bei der alltäglichen Wahrnehmung der Brutalität der allgegenwärtigen „Sittenwächter“.

 

Dazu ist Zivilcourage als eine „Bürgerpflicht“ unabdingbar, ohne die keine Solidargemeinschaft möglich ist. Sie besteht in einer Pflicht, für eine Sache einzustehen, vor allem im Alltag für etwas eintreten und Mut zu zeigen. Vor allem besteht sie in der Pflicht, Menschen in Not zu helfen, wie man sie bei der alltäglichen Brutalität der „Sittenwächter“ erlebt.

 

Die Hilfeleistung in einer Notlage ist eine ethisch-moralische Verpflichtung, die die Gesetzgeber in demokratischen Gesellschaften auch strafrechtlich und zivilrechtlich sicherstellen. „Die unterlassene Hilfeleistung“ stellt z.B. gem. § 323c Strafgesetzbuch (StGB) einen Straftatbestand dar. Damit soll ein Mindestmaß an Solidarpflichten sicher gestellt werden; denn jeder Mensch ist dazu verpflichtet einer anderen Person Hilfe zu leisten, ohne sich selbst dabei unzumutbar in Gefahr zu begeben. Daher ist die Beurteilung der Zumutbarkeit der Opferbereitschaft entscheidend für Zivilcourage eines jeden Menschen. Dies setzt aber nicht nur ein gemeinsam geteiltes Gewissen voraus, sondern auch die erworbenen Emotionen, die bestimmte Handlungen motivieren. Erst die gemeinsamen emotionalen Bewertungstendenzen in einer gegebenen Situation, die bestimmte Verhaltenstendenzen auslösen, bilden die Psychogenese der Integration einer Gesellschaft auf unterschiedlicher Entwicklungsstufe. Ohne diese gemeinsame Gefühlslage in einer gegebenen Situation ist keine Solidarität und kein Beistand in Not und damit gegenseitiger Hilfeleistung in Not möglich. Dazu bedarf es keines charismatischen Führers. Erst das Ethos der Menschenrechte als rechtsmoralische Grundlage einer emotionalen Bewertungstendenz motiviert Menschen in einer zunehmend differenzierenden und individualisierten Gesellschaft zum zivilen Ungehorsam. Letztere wäre aber ohne die Zivilcourage unmöglich, die durch eine Schreckensherrschaft unterdrückt werden soll.

 

Die Bereitschaft zur Hilfeleistung in Not, wie sie alltäglich durch die brutale Missachtung der Menschenrechte notwendig ist, setzt eine gewisse Empathie voraus. Ohne die Fähigkeit zum Einfühlen und Nachempfinden der Erlebnisse und Gefühle anderer, entsteht keine menschliche Bindung. Sie ist vor allem eine Voraussetzung für moralisches Handeln. Eine Wurzel des einfühlenden Verhaltens liegt dabei in neurobiologischen Mechanismen begründet, die als „Spiegelneuronen“ bekannt sind. Diese lösen im Gehirn während der passiven Betrachtung einer Bewegung ähnliche Wirkungsweisen aus, wie sie entstehen, wenn diese Bewegung aktiv ausgeführt wird. Auch Beobachten und Nachahmen von Emotionen bei anderen Menschen rufen im Gehirn fast dieselben Erregungsmuster hervor. Diese erworbenen Emotionen sind die Psychogenese sozialer Einheiten. Sie entsprechen sozialen Bewegungen, die ohne Zivilcourage in der Abwehr der empfundenen gemeinsamen Bedrohungen unmöglich wären. Dazu bedarf es keines charismatischen Führers.

 

Zivilcourage war schon im vormodernen Iran ein moralisches Gebot, dem in den Städten in der Regel die Lutis nachkamen. Sie waren eine Gruppe von Ringern und Bodybuildern, die in „Zorkhanehs“ (traditionellen Fitnesscentern) verkehrten und mit bestimmten Outfits und Gebärden in der Öffentlichkeit auftraten. Bei ihrer Aufnahme in einer Luti-Gruppe, schwören sie, nach ritterlicher Ethik zu leben, die Schwachen zu verteidigen und die Nachbarschaft vor äußeren Bedrohungen zu schützen. Aus diesem Grunde wurden sie zuweilen als Helden mystifiziert. Diese Gruppen degenerierten allerdings in den Modernisierungsprozessen. Sie stellten sich in der Regel als Schläger den politischen und religiösen Etablierten zur Verfügung.

 

Dabei wurde die gesellschaftlich notwendige Zivilcourage als Tugend sogar als politische Bedrohung unterdrückt. Bazargan, der erste nachrevolutionäre provisorische Regierungschef, warnte seiner Zeit das Schahregime vor Fortsetzung der Unterdrückung der gewaltfreien politischen Organisationen und der Gewalt in den politischen Auseinandersetzungen mit dem Hinweis: wir sind die letzte gewaltfreie Opposition. Als Reaktion auf ihre Unterdrückung entstanden in den sechziger Jahren bewaffnete Stadtguerillas, die sich dem Volk als Objekt der Hingabe verschrieben (Fedaijan-e Khalgh). Sie zielten auf die Förderung der Zivilcourage, indem sie die Verwundbarkeit des Regimes praktisch demonstrieren wollten. Diese wurden zwar blutig unterdrückt, hinterließen aber ein Vorbild revolutionärer Opferbereitschaft. Die „islamisierte Revolution“ war ihre Folge.

 

Dies war nur möglich, weil Zivilcourage mit der Empathie in zunehmend vermasster Gesellschaft verloren ging. Diese Vermassung und damit einhergehende Anonymisierung des städtischen Lebens entstand durch den Zerfall der traditionellen sozialen Einheiten wie die dörflichen Gemeinschaften in Folge der „weißen Revolution“ und der Massenmigrationen in den Städten. Die emotionale Bindung der Massenindividuen miteinander konnte angesichts der fehlenden zivilgesellschaftlichen Organisationen nur durch ihre gemeinsame Identifizierung mit ihrem charismatischen Führer Khomeini entstehen. Mit dieser Massenbasis war der Khomeiniismus in der Lage, eine Dezivilisierung und institutionelle Entdemokratisierung der Staatsgesellschaft in Gestalt der „Islamischen Republik“ durchzusetzen. Diese verschärfte sich in zunehmender Verschiebung der Balance zwischen den zwei sich widersprechenden konstitutiven Aspekten der „Islamischen Republik“ zugunsten der Etablierung der absoluten klerikalen Herrschaft Khameneis.

 

Sie zu überwinden bedarf keines neuen charismatischen Führers, sondern zunehmender zivilgesellschaftlicher Organisation der Gesellschaft. Sie entstehen im praktischen zivilen Ungehorsam, der einer zunehmenden Zivilcourage bedarf. Diese sind zunehmend wahrnehmbar nicht nur durch wachsende Zivilcourage der Menschen, die ihre passive teilnahmslose Zuschauerrolle im Alltag aufgeben und den bedrängten Aktivisten Beistand leisten. Rufe wie „lass sie/ihn los“ oder die Beschimpfung der gewalttätigen Büttel des Regimes als „ehrlos“ sind Zeichen der zunehmenden Zivilcourage im Alltag, die zuweilen als praktische Hilfe zur Flucht der Bedrängten reicht. Darüber hinaus manifestieren sie sich zunehmend in organisierten Protestbewegungen, die sich zu sozialen Bewegungen mit klaren Zielvorstellungen entwickeln. Sie heben nicht nur hervor, was sie nicht wollen, sondern sie betonen zunehmend ihre klar formulierten Forderungen. Sie sind nicht mehr gegen etwas, sondern ausdrücklich für etwas.

 

Sie praktisch zu fördern ist eine unabdingbare Voraussetzung der bürgerlichen Gesellschaft als Bezugsrahmen der Demokratisierung sozialer und politischer Beziehungen. Sie entsteht in zivilem Ungehorsam, der ohne Zivilcourage unmöglich wäre. Deswegen sollte der zivile Ungehorsam nicht nur als eine Taktik sondern als eine strategische Notwendigkeit für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft angesehen werden. Denn der Weg ist das Ziel.

 

Hannover, den 12.07.2022