Zur Verschiebung der Balance von Nekrophilie zur Biophilie als Charakterisierung der revolutionären Erhebung im Iran:

 

“Frau, Leben, Freiheit“1

 

In diesem Beitrag möchte ich anstatt der sonst üblichen sozialen Verortung der andauernden sozialen Erhebungen im Iran die Charakterorientierungen der involvierten Menschen hervorheben. Diese Orientierungen, in denen sich der Einzelne zur außermenschlichen Natur, zu seiner eigenen Natur und zu seiner sozialen Welt in Beziehung setzt, bilden den Kern seines Charakters. Mit der Charakterorientierung hat man Zugang zu den Motiven hinter den beobachtbaren Verhaltensweisen der Menschen, auch wenn sie ihnen selbst unbewusst bleiben. Mit dem Hinweis auf die Verschiebung der Balance von der Nekrophilie zur Biophilie wird deutlich, wie sich seit der Entstehung der „Islamischen Republik“ die mehr oder weniger gleichbleibende Form, in die die menschliche Energie im Prozess der Assimilierung und Sozialisation kanalisiert wird, verschoben hat. Diese soziale Verschiebung der Balance von der Liebe zum Toten und Unlebendigen zur Liebe zum Leben und Lebendigen manifestiert sich durch die mannigfaltigen unterdrückten massenhaften Erhebungen vor allem seit der „grünen Bewegung“ 20092. Diese Balanceverschiebung mag als zunehmende Legitimationskrise des Regimes erscheinen. Im Wesentlichen geht es aber um einen unversöhnlichen Konflikt zwischen den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und den sich entwickelnden Produktivkräften der Menschen. Der unterschiedlich gelebte Alltag der Menschen, ihre sich unterscheidenden und zunehmend unversöhnlich widersprechenden Alltagsleben und der Versuch der klerikalen Herrschaft, einen islamisch definierten Lebensstill gewaltsam durchzusetzen, macht das soziale Konfliktpotential sichtbar. Begreift man das Alltagsleben als sozialen Habitus der Menschen, dann handelt es sich um antagonistische Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Handeln der involvierten Menschen. Es geht um einen unversöhnlichen Konflikt zwischen Menschen mit unterschiedlichensozialen Persönlichkeitsstrukturen. Es geht also um den unversöhnlichen Konflikt zwischen produktiven und destruktiven sozialen Charakterorientierungen. Dieses Konfliktpotential manifestiert sich exemplarisch vor allem in dem verordneten Schleierzwang, dem sich immer mehr Frauen widersetzen.

 

Dieser Widerstand gegen die allgegenwärtige Bevormundung und alltägliche Erniedrigung, die einhergeht mit der antiautoritären Forderung nach individueller Autonomie der Menschen als freie Staatsbürger, ist nicht nur auf Frauen beschränkt. Die ethnischen und konfessionellen Diskriminierungen und Demütigungen, die auch alle Andersdenkenden und Anderslebenden alltäglich erfahren, führen zu gemeinsamen Forderungen vor allem der jüngeren Generation nach “Frau, Leben, Freiheit“. Damit soll den alltäglich erfahrenen Entwertungen und Verletzungen sowie der Beschämung und den Diffamierungen ein Ende gesetzt werden.

 

Nicht zuletzt die in einer globalisierten und digitalisierten Welt lebende und sich in seiner Wachstumsphase befindliche Jugend kann diese massive Heteronomie im Alltagsleben, die Unterdrückung ihres Lebensstils sowie die alltäglichen Kränkungen nicht mehr ertragen. Die zunehmende Zahl der Süchtigen und der Selbstmordrate der Jugendlichen in der „Islamischen Republik“ sowie die massive Migration der von acht bis zehn Millionen zumeist gut ausgebildeter junger Menschen weisen auf den alltäglich praktizierten Seelenmord unter der „klerikalen Herrschaft“ hin, dem sich die antiautoritäre Jugend unmissverständlich widersetzten will. Diese unversöhnliche Haltung kommt in ihren Parolen zum Ausdruck: „der Student stirbt, lässt sich nicht demütigen“.Oder „Wir kämpfen, sterben, erobern den Iran zurück“ ist die Parole der für ihr Leben und Freiheit kämpfenden Menschen gegen die klerikale Herrschaft, die sich als eine Besatzungsmacht begreift und entsprechend verhält. Wer einen Begriff von der Besatzungsmachterfahrung im Iran haben will, rufe sich die Nazis und Widerstandskämpfer unter ihrer Okkupation in Erinnerung.

 

Dieser allgemeine „Wille zur Macht“ zur Durchsetzung der Biophilie ist Ausdruck eines Zivilisierungsschubes der zunehmend größere Teile der als Untertanen unterworfenen Menschen erfasst, die sich ihrer Rechte als mündige Staatsbürger bewusst werden. Dieser Schub ist ein Nachholeffekt des sozialen Habitus der Menschen, die als Folge der sich aus den vorrevolutionären autoritären Modernisierungsprozessen ergebenden funktionalen Demokratisierung zu Trägern der „islamischen Revolution“ wurden3. Die Demokratisierung ihres sozialen Habitus hinkte den autoritär-technokratischen Modernisierungsprozessen der Gesellschafthinterher. Dafür war die Unterdrückung der zivilgesellschaftlichen Organisationen als Agent der Demokratisierung des sozialen Habitus verantwortlich. Diese als Herrschaftstabilisierend gedachten Maßnahmen ermöglichten die Hegemonialmacht der konservativen Kräfte, die die nachrevolutionäre institutionelle Ent-Demokratisierung und De-Zivilisierung der Staatsgesellschaft anführten.

 

Die nachholende Demokratisierung der Art und Weise, wie Menschen denken, fühlen und handeln, ist eine unbeabsichtigte Folge der erlebten Nekrophilie in Gestalt der klerikalen Herrschaft, die samt der herrschenden Seelenblindheit überwunden werden soll. Die sichtbare massenhafte Empathie und Solidarität der Protestierenden unter einander ist eine unbeabsichtigte Folge ihrer gemeinsam erlebten alltäglichen Empathieunfähikeit der unbarmherzigen klerikalen Herrschaft, die nur nach eigener Verewigung trachtet. Dabei respektieren die Etablierten keine Gesetze und ihnen widerstrebende soziale Normen. Sie erkennen anderen das Recht auf Selbstbestimmung ab, tendieren zu manipulativem und gewalttätigem Verhalten und zeigen wenig Schuld- oder Reuegefühle. Sie lügen, betrügen und nutzen ihre Mitmenschen geschickt aus. Zugleich sind sie ausgesprochen risikobereit und verhalten sich verantwortungslos. Diesem herrschenden Verhaltens- und Erlebensmuster liegt jene Nekrophilie zugrunde, die aus diesem zwangshaften Verhaltens- und Erlebensmuster der Machthaber gefolgert werden muss. Die Nekrophilie ist die begrifflich fassbare Form der destruktiven Verhaltens- und Erlebensmuster der Herrschenden in der „Islamischen Republik“, der sich produktive Menschen mit Liebe zum Leben widersetzen. Solange man diese Charakterologie nicht berücksichtigt, reduziert man das Regime auf seine islamisch geprägte totalitäre Ideologie und verkennt seine Abartigkeit, wie man ursprünglich die Naziherrschaft international unterschätzt hat.

 

Zu einigen Beispielen erfahrbarer Nekrophilie und Biophilie als Charakterorientierungen der involvierten Menschen, die unterschiedliche ideologische Formen annehmen können.

 

Um die Charakterorientierungen der Menschen zu begreifen, ist eine Einsicht in die lernbedürftige menschliche Natur unabdingbar. Der Mensch existiert mit seiner prägbaren Natur nur in Verbindung zur außermenschlichen Natur und anderen Lebewesen. Er ist sowohl als Organismus als auch seelisch gerichtet auf die außermenschliche Natur und andere Lebewesen. Ohne die Sonne hätte er keine Augen, ohne die Erdanziehungskraft keine Füße, ohne Luft keine Lunge. Er hätte auch ohne andere Menschen überhaupt keine sozial geprägte Existenzchance und Persönlichkeit. Er ist nicht nur in eine Gesellschaft von Menschen geboren. Er ist auch ohne andere Menschen überhaupt nicht existenzfähig. Seine Verhaltens- und Erlebensmuster sind also genauso auf andere Menschen gerichtet wie seine Persönlichkeit insgesamt eine soziale Prägung ist. Der Einzelne ist also ein Ensemble seiner Beziehungen zur außermenschlichen Natur, zur eigenen Natur und zu anderen Menschen als Einzelner wie als Gruppen. Seine Persönlichkeitsstruktur ist eine Figuration dieser prägenden Beziehungen. Die Handhabung der außermenschlichen Naturzwänge durch technologische Entwicklung, der Zwänge der eigenen Natur in Gestalt seiner Trieb- und Affektkontrolle entsprechend dem vorgegebenen Zivilisationsmuster, damit er mit sich selbst und anderen Menschen leben kann, der Fremdzwänge in Form der sozialen Normen sowie der verinnerlichten Fremdzwänge als Selbstzwänge prägt seine Persönlichkeit. Ihre Charakterorientierung ist die Manifestation ihrer sich aus diesen Beziehungserfahrungen ergebenden neuronalen Prägung und Verknüpfungen. Die sich ergebenden Bezogenheiten können eher produktiv oder destruktiv sein. Dementsprechend neigt der Mensch zur Biophilie, zur Liebe zum Leben und Lebendigen oder zur Nekrophilie, zur Liebe zum Toten und Unlebendigen.

 

In den gegenwärtigen sozialen Erhebungen der Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und sozialer Zugehörigkeit, scheint sich die Balance zwischen Nekrophilie und Biophilie zugunsten der Biophilie zu neigen, wie sie sich in ihrer Zentralparole manifestiert: „Frau, Leben, Freiheit“.

 

Diese Tendenzen werden daher - äußerlich personell wahrnehmbar - repräsentiert durch das Regime als Symbol der Nekrophilie und die feministisch geprägten sozialen Erhebungen der Schüler, Studenten und der Stadtteilbewohner in ihren dezentralen Kampfformationen sowie den streikenden Arbeitern und Angestellten als Biophilie.

 

Zum nekrophilen Charakter der klerikalen Herrschaft:

 

Die Nekrophilie wird im charakterologischen Sinn begriffen als das leidenschaftliche Angezogenwerden von allem, was tot, vermodert, verwest und krank ist.4 Diese Liebe der klerikalen Herrschaft zum Toten kommt vor allem durch die Hervorhebung der Scharia als göttlich unveränderbares Verhaltens- und Erlebensmuster, für deren Aufrechterhaltung die klerikale Herrschaft notwendig wäre. Ihrer Aufrechterhaltung kommt nach Khomeini absolute Priorität zu, selbst wenn die primären Gebote des Islams dabei suspendiert werden sollten. Für ihn ist „der Baum des Islams“ nur mit Blut getränkt. Seine Nekrophilie und die seiner Nachfolger besteht deshalb in der Leidenschaft, das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln, wofür die Verherrlichung des Martyriums für die Herstellung und ewige Aufrechterhaltung des Islams in Gestalt der klerikalen Herrschaft steht.

 

Die Nekrophilie der klerikalen Herrschaft manifestiert sich im Seelenmord. Dies wird in den Gefängnissen am deutlichsten sichtbar, wo die Folterung der Gefangenen keinen anderen Sinn hat als den Bruch ihres Willens. Deswegen sterben soviele andersdenkende und andersgläubige Gefangene in der „Islamischen Republik“, weil sie sich gegen ihre Selbstverleugnung und ihren Seelenmord wehren. Oder sie begehen sogar Selbstmord, nachdem sie aus dem Gefängnis entlassen sind, wie z.B. im Falle des neunzehnjährigen Mädchens, Yalda. Sie nahm sich am 12. November 2022 das Leben, fünf Tage nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis, wo sie zwölf Tagelang gefoltert wurde, damit sie ihre Teilnahme an den Protesten bereut. Wer weiß, welche traumatischen Gräueltaten sie erfahren musste, die solch einen so lebensfrohen Menschen zum Selbstmord getrieben haben.

 

Die angestrebte Friedhofsruhe, die seit 44 Jahren als einziger Garant der klerikalen Herrschaft begriffen wird, verwandelt das ganze Land in ein Gefängnis, in dem sich Millionen von Menschen ihrer nekrophilen Herrschaft unterwerfen müssen. Dies begann mit der Hinrichtung der gefürchteten Führungspersönlichkeiten des Schah-Regimes und setzte sich fort mit der Hinrichtung tausender unschuldiger Menschen in den Gefängnissen innerhalb weniger Wochen als „Endlösung“ jeglicher Opposition. Diese „Säuberungen“ wurden fortgesetzt durch die Ermordung jedes Opponenten im In- und Ausland, der zu einer Integrationsfigur werden könnte. Die ungestrafte Duldung unzähliger Terrorakte in Europa erlaubte die Erweiterung der Reichweite des Staatsterrorismus der „Islamischen Republik“ auf die ganze Welt. Dem folgte die Geiselnahme der Bürger anderer Staaten zur Erpressung von sonst unerfüllbaren Forderungen.

 

Die herrschende Destruktivität der klerikalen Herrschaft manifestiert sich auch in vielfältigen Formen im Alltagsleben der Menschen. In einem Land, in dem es nicht um die Verinnerlichung der sozial akzeptablen Normen geht, sondern lediglich um „die Einhaltung des islamischen Scheins“ in der Öffentlichkeit als oberstes Gebot, herrscht Nekrophilie. Dieser Zwang zur demonstrativen Unterwerfung ist die Alltagspraxis einer Herrschaftsform, der die Liebe zum Leben und Lebendigen total fremd ist. Der Schleierzwang für Frauen dient exemplarisch diesem Seelenmord, dem sich mutige Frauen seit der Entstehung der „Islamischen Republik“ durch zivilen Ungehorsam permanent widersetzen. Auch die Unterbindung jeglicher Freude spendender Spiele der Jugendlichen in der Öffentlichkeit sowie Tanz- und Musikveranstaltungen sind andere Beispiele der Nekrophilie5.

 

In keinem Land der Erde werden Umweltaktivisten verhaftet und ermordet, außer dort, wo das ausschließliche Interesse an allem besteht, was rein mechanisch ist. Wer sich diesem Verlangen widersetzt, hat kein Existenzrecht.

 

Die klerikale Herrschaft im Iran manifestiert sich in der Leidenschaft, lebendige Zusammenhänge mit der Absicht der „Islamisierung“ der Welt mit Gewalt zu zerstören. Ihre blutige regionale Expansionspolitik zur Zerstörung von „Darul-Harb“ („Land des Krieges“) und der Herstellung von „Darul-Islam“ („Land des Islam“) in Syrien, im Irak, und im Jemen sind nur einige Beispiele ihrer nekrophilen Zerstörungswut. Hinzukommt die innerstaatliche Politik des „Teile und herrsche“, indem sie die nationale Einheit der Iraner durch Ethniesierung und Konfessionalisierung sozialer Konflikte zu zerstören versucht, anstatt sie - wie jede sonstige Staatsmacht - zu fördern. Durch die ethnische und konfessionelle Reduzierung der Reichweite der Identifizierung der Iraner miteinander und die Unterbindung ihrer emotionalen Bindungen als Iraner versucht sie ihre fragile nationale Einheit zu zerstören und so auch zugleich die berechtigten Forderungen der diskriminierten ethnisch und konfessionell dominierten Regionen des Landes nach Chancengleichheit zu unterdrücken. Die klerikale Herrschaft respektiert keine iranische Nation und keinen Nationalstaat der Iraner, sondern nur Untertanen, die keine nationalen Grenzen im expedierungsbedürftigen klerikalen Herrschaftsbereich kennen. Sie begreifen und benehmen sich daher als Besatzungsmacht im Iran, wo sie alles als ihre Kriegsbeute begreifen. Dabei sollen die Iraner froh sein, dass man nicht ihre Frauen enteignet hat– so einer der „Geistlichen“. Deswegen sind die Iraner entschlossen, ihr Land wieder zu erobern: „Wir kämpfen, wir sterben, wir erobern Iran wieder“ ist eine ihrer zentralen Parolen.

 

Die Träger dieser nekrophilen Herrschaftsform sind mit solch ungleichmäßigen Trieb- und Affektkontrollen ausgestattet, die sich mit ihren lebensfeindlichen starken Tendenzen im Alltagsleben manifestieren. Die Sexualisierung aller Beziehungen und Reduzierung der Frauen auf bloße Sexobjekte, die in der Öffentlichkeit verhüllt werden sollen, gehören dazu. Es gelingt ihnen anscheinend nicht, ihr Zivilisationspotential gleichmäßig zu entwickeln. Ihre mangelnde Triebkontrolle ist ein Beispiel für ihre zivilisatorische Unterentwicklung der Trieb- und Affektkontrolle sowie ihrer Fähigkeit zur produktiven Sublimierung dieser Energien. Mit ihrem zwangshaften Charakter sind sie auch nicht in der Lage, sich auf das Leben als etwas zu beziehen, das sie interessiert und ihnen Freude macht. Da es ihnen nicht gelingt, ihre produktiven Kräfte zu entwickeln, neigen sie dazu, eine eher destruktive Art der Bezogenheit zu ihrer Welt zu entwickeln. Unfähig, das Leben zu transzendieren, indem sie neues Leben schaffen, zerstören sie Leben und das Lebendige.6 Die Akkumulation der Machtchancen bleibt ihr einziger Lebenssinn, und die Korruption sowie die gewaltsamen Formen „ursprünglicher Kapitalakkumulation“ sind die einzigen Wege, weil sie zu keinem produktiven Unternehmen fähig sind, das auf lange Sicht angelegt ist und des Triebaufschubs bedarf.

 

Ihre Kunst- und Kulturfeindlichkeit und die Verteufelung alles Modernen als „Verwestlichung“ sowie die öffentliche Verbannung aller Freudespendenden Veranstaltungen manifestieren diese lebensfeindliche Tendenz. Es sei denn, sie könnten „islamisiert“ bzw. Herrschaft stabilisierend instrumentalisiert werden. Schöpfungsunfähig unterdrücken sie jegliche Schöpfung. Diese destruktive Art demonstrativer Hervorhebung der als eigen definierten Werte wird als permanente Demütigung der als Untertanen behandelten Menschen erfahren.

 

In Abwehr dieser Formen des Seelenmordes schwören die sozialen Träger der neuen Erhebungen einen unerbittlichen Emanzipationskampf bis zum Tod. Sie sind bereit zu sterben, ehe sie sich weiter demütigen zu lassen. Diese Schmerzgrenze der unerträglichen Demütigungen manifestiert sich in einer der gemeinsamen Parolen der Frauen, Schüler, Studenten, Arbeiter wie z.B.: „Der/DieStudent*in stirbt, er/sie duldet keine Demütigung“ („Daneshdju mimirad, Zellat nemipazirad“). Die vielfältigen und phantasievollen Formen des zivilen Ungehorsams zeigen ihre Biophilie, ihre Liebe zum Leben und Lebendigen.

 

Die anfänglichen feministisch geprägten Protestbewegungen, die sich inzwischen sozial und territorial zunehmend ausgeweitet haben, befinden sich in einer unumkehrbaren Phase. Mit den zunehmenden Streikbewegungen sind sie dabei, sich in eine revolutionäre Emanzipationsbewegung zur Überwindung der „Islamischen Republik“ zu entwickeln. Das Motiv der Träger dieser Emanzipationsbewegung ist Biophilie, Liebe zum Leben und Lebendigen. Die Betonnung der „Frau, Leben, Freiheit“ zielt ausdrücklich auf die Herstellung von humanen Selbstwertbeziehungen der lebensbejahenden Menschen in Freiheit ohne jegliche Diskriminierung.

 

Zur Biophilie der sozialen Erhebungen für “Frau, Leben, Freiheit“

 

Diese soziale Erhebung wird vorwiegend von den jüngeren Generationen und von Frauen getragen, die angesichts der Seelenblindheit der klerikalen Herrschaft keine Hoffnung mehr auf eine Reformierbarkeit der bestehenden Herrschaftsform haben. Die Nicht-Reformierbarkeit haben sie blutig genug erfahren. Zuletzt in der blutigen Unterdrückung der massenhaften Protestaktionen in November 2020. Dabei wurde Reuters zufolge auf mindestens 1500 friedliche Demonstranten gezielt tödlich geschossen. Die Dunkelziffer dürfte jedoch mehrere tausend Opfer umfassen. Dennoch vermeiden die Protestierenden weiterhin jegliche Form der Gewalt, außer in Form gerechtfertigter Selbstverteidigung. Dies manifestiert sich in ihren vielfältigen phantasievollen Formen des zivilen Ungehorsams, die das Regime durch seine permanenten blutigen Gewalttätigkeiten zur Gegengewalt provozieren will. Doch der hohe Zivilisierungsgrad und die Biophilie dieser sozialen Erhebung hat sie bis jetzt vor diesen Fallen des Regimes bewahrt. Zumal die Handlungen des Regimes durch seine Einfältigkeit zumeist voraussehbar und vereitelbar sind.

 

Diese antiautoritäre leidenschaftliche Liebe zum Leben und allem Lebendigen, wird in dem inzwischen zur Hymne der neuen revolutionären Erhebung gewordenen Lied „Baraye“ von Shervin Hajipour ausgedrückt7. Dieses Quasi-Manifest der sozialen Emanzipationsbewegung betont ausdrücklich den Wunsch, die Liebe zum Leben und die Freiheit zum Wachstum der produktiven Potentiale zu fördern, ob es sich nun um Menschen, Pflanzen, Ideen oder soziale Gruppen handelt. Deren soziale Träger streben danach, lieber etwas Neues aufzubauen, als -wie manche tradierten politischen Organisationen - nostalgisch das Alte heraufzubeschwören. Sie wollen eher mehr sein als mehr haben, wie die überlieferten politischen Orientierungen nahelegen. Sie besitzen die Fähigkeit, sich zu wundern, und sie erleben lieber etwas Neues als das Alte bestätigt zu finden. Das Abenteuer zu leben ist ihnen lieber als Sicherheit, der sie ihre Freiheit opfern sollen. Deswegen sind sie bereit, dafür zu sterben. Sie sind nicht bereit, die Freiheit für die Sicherheit zu opfern. Sie haben mehr das Ganze im Auge als nur die Teile, mehr Strukturen als Summierungen. Sie möchten formen und durch Liebe, Vernunft und Beispiel ihren Einfluss geltend machen, wie es auch die politischen Gefangenen alltäglich demonstrieren8.

 

Die integrative Tendenz dieser sozialen Bewegung, die sich in der Entstehung der nationalen Einheit der Iraner manifestiert, charakterisiert ihre Biophilie. Sie ist in der Lage, zum ersten Male in der Geschichte die nationale Integration der ethnisch und konfessionell vielfältigen Iraner zu einer selbstbewussten nationalen Einheit herbeizuzaubern. Sie schafft die Erweiterung der Reichweite der Identifizierung der Menschen mit anderen Menschen jenseits ihrer ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit. Die Erweiterung der emotionalen Bindung der Menschen mit Menschen jenseits ihrer vorausgehend dominanten ethnischen und konfessionellen Gruppenzugehörigkeit verschiebt zugleich die Balance zwischen ihrer Wir- und Ichidentität zugunsten einer Ichidentität der sich als mündige Staatsbürger begreifenden Iraner.

 

Zur auf „Blockchain“ basierenden Organisierung der Protestbewegungen und der basisdemokratischen Transformation der Staatsmacht im Iran.

 

Die Biophilie dieser antiautoritären Emanzipationsbewegung manifestiert sich außerdem in ihrer dezentralen auf „Blockchain“ basierendenOrganisationsform ohne die sonst üblichen charismatischen Führungspersönlichkeiten. Dabei ist der gemeinsame Kampf für die Überwindung der klerikalen Herrschaft, die Menschenrechte und ihre bürgerlichen Grundrechte ein unfehlbares gemeinsam geteiltes Orientierungsmittel der dezentral organisierten Menschen, das jegliche autoritäre Orientierung an einen charismatischen Führer ersetzt. Mit dieser Zielvorgabe bestimmt, im Gegensatz zu klassischen „zentraldemokratischen“ Organisationen, keine zentrale Person oder Gruppe über eine dezentralisierte autonome Organisation der sozialen Bewegungen. Dies ist ein Vorteil für ein autoritär geprägtes Land.

 

Der Vorteil ergibt sich aus der Notwendigkeit der auf der dezentralen „Blockchain“ beruhenden Kooperation der involvierten Menschen. Sie ist gegenwärtig die einzig Erfolgversprechende Organisationsform der revolutionären Bewegungen angesichts der Allgegenwart der Unterdrückungsmaschinerie des Regimes, das jegliche Opposition wie eine Besatzungsmacht bekämpft. Den Menschen stellen sich immer nur jene Probleme, die sie lösen können.

 

Die dezentrale autonome Organisierung der Emanzipationsbewegung ist eine moderne Möglichkeit, sich sogar mit anderen Menschen auf der ganzen Welt zu organisieren, ohne einander zu kennen. Dabei kann man verschlüsselt in einer „Blockchain“ eigene Regeln aufstellen und eigene Entscheidungen autonom treffen.

 

Mit der Allgegenwart des dezentral organisierten Gemeinsinns entsteht der Schein einer Kopflosigkeit der Bewegungen aus einem einfachen Missverständnis heraus. Man verwechselt im digitalen Zeitalter vor allem eine moderne prozessorientierte Organisierung der sozialen Bewegungen in ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe, die sich aus den jeweils entstehenden Problemlagen ergeben, mit der zustandsreduzierten Vorstellung von einem zentralisierten Organisationaufbau der sozialen Bewegungen. Dabei verkennt man zugleich die gewonnenen Erfahrungen für die dezentralen Organisationsmöglichkeiten für den künftigen Aufbau eines modernen dezentralisierten demokratischen Staates nach dem Subsidiaritätsprinzip.

 

Dezentrale autonome Organisationen werden sogar seit der Corona-Krise als eine krisensichere Unternehmensform der Zukunft angesehen, nachdem die meisten Unternehmen gezwungen wurden, ihre Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. Demgegenüber ist die derzeitig vorherrschende Unternehmensstruktur schwerfällig und oftmals abhängig von der Präsenz der Mitarbeiter vor Ort. Dabei stehen durch die technische Entwicklung der letzten Jahre moderne Unternehmenskonzepte zur Verfügung, von denen die dezentrale autonome Organisation am krisenfestesten erscheint.

 

Grundsätzlich werden die dezentralen autonomen Organisationen nach den Regeln betrieben, die durch Smart Contracts festgelegt worden sind. Sie nutzen dafür die dezentrale und transparente Natur der Blockchain um zu funktionieren. Änderungen der Governance-Regeln werden durch den Konsens von den Beteiligten erreicht, nicht durch Entscheidungen einer Person oder einer kleinen Gruppe, die einflussreich Autorität ausübt.

 

Je nach Autonomie werden die Entscheidungen automatisch oder durch die Stimmen der Token-Inhaber getroffen. Es existieren keine Verwaltungsräte, Geschäftsführer oder Managementteams. Dabei sind die Beteiligten in der dezentralen autonomen Organisation regelmäßig weltweit verteilt und interagieren nur digital. Sämtliche Transaktionen werden transparent und unveränderlich auf der Blockchain festgehalten.

 

Während insbesondere in Krisenzeiten Korruption und Eigeninteressen menschliche Entscheidungsträger in herkömmlichen Organisationen negativ beeinflussen, können die dezentralen autonomen Organisationen mit ihrer transparenten und dezentralen Struktur diesem Missbrauchspotenzial entgegenwirken. Sie versprechen somit effizientere und widerstandsfähigere Organisationen zu sein, die hoffentlich in der künftigen Umstrukturierung der iranischen Staatsgesellschaft berücksichtigt werden.

 

15.11.2022

 

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1 https://www.youtube.com/watch?v=TPyHuCZzsVA

 

2 Vergl. Dawud Gholamasad, Irans neuer Umbruch – Von der Liebe zum Toten zur Liebe zum Leben, Hannover, 2010

 

3 Vergl. https://gholamasad.jimdofree.com/iran-die-entstehung-der-islamischen-revolution/

 

& https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/zu-demokratisierungsproblemen-als-nachhinkeffekt-der-grundqualifikationen-des-rollenhandelns-als-gleichwertige-staatsb%C3%BCrger-warum-rollenerwartungen-gef%C3%A4hrlicher-sind-als-rollentr%C3%A4ger/

 

& https://gholamasad.jimdofree.com/artikel/zu-emanzipations-und-demokratisierungsproblemen-islamisch-gepr%C3%A4gter-gesellschaften/

 

4 Erich Fromm, Anatomie der menschlichen Destruktivität, in: Gesamtausgabe Band VII, S. 301.

 

5 Vergl.https://gholamasad.jimdofree.com/vortr%C3%A4ge/wasserschlacht-im-park-als-akt-des-zivilen-ungehorsams-im-iran/

 

6 Vgl. Erich Fromm-Gesamtausgabe, Band XII, S. 159.

 

7 https://www.youtube.com/watch?v=TPyHuCZzsVA

 

8 Vgl. zu zentralen Aspekten der Biophilie: Anatomie der menschlichen Destruktivität 1973, in: Erich-Fromm-Gesamtausgabe, Band VII, S. 331.