Zu Emanzipations- und Demokratisierungs- problemen der islamisch geprägten Gesellschaften

 

Eines der Probleme der gegenwärtigen Diskussion über Demokratisierung der islamisch geprägten Gesellschaften scheint darin zu bestehen, daß man über keinen gemeinsam kommunizierbaren angemessenen Islam- und Demokratiebegriff verfügt.

 

1. Zum Islam als ein Wandlungskontinuum

 

In der Regel wird der Islam nicht in seiner relativen Autonomie von den in Gruppen organisierten Menschen einer mehr oder weniger differenzierten Gesellschaft, sondern als eine von ihnen scheinbar getrennte "Sphäre" begriffen, die unverändert bzw. identisch mit einer seiner etablierten Ausprägungen wäre.Betrachtete man die jeweiligen "Sphären" wie z.B. ökonomische, politische oder religiöse jedoch als  menschliche Gruppen in unterschiedlichen sozialen Positionen  (Elias, 1971, S. 150) wie z. B. als Unternehmer, Politiker oder Geistliche, erwiese sich der Islam als eine relativ autonome Figuration von Menschen im Verhältnis zu bestimmten Individuen, die diese hier und jetzt bilden. Er würde sich auf die Gestalt des Zusammenlebens der sich Kraft ihrer grundlegenden Interdependenz voneinder gruppierenden mehr oder weniger gläubigen Menschen beziehen. Er ist ein, als selbstverständlich ungeprüft von einer Generation zu anderen weitergegebenes Erlebens- und Verhaltensmuster von in spezifischer Art und in spezifischem Grad geprägten Menschen. Als solches gewinnt er heute für die  mehr oder weniger säkularisierten Menschen, die islamisch geprägt sind einen normativen Chrakter.

 

Was den Islam der Anfangszeit mit dem vom 20. Jh. bzw. des Fundamentalismus verbindet, ist nicht so sehr irgendein Wesenskern, der unverändert geblieben ist, sondern die Kontinuität der Wandlungen, in denen der Islam des 20. Jhs. aus dem der Zeit des Propheten und der Imame hervorging, verstärkt durch den Umstand, daß es sich um eine erinnerte Kontinuität handelt. In dieser Prozeßkontinuität würde man sowohl des scheinbar ewig Unwandelbaren als des Kontinuums eines neuzeitlich nicht-wissenschaftlichen Typs des Wissens und einer normativen Verhaltenserwartung gewahr werden, als auch ihrer Wandlungen.

 

Als eine bestimmte Art zu denken, repräsentiert daher der Islam ein Denkmuster, das seine Institutionalisierung in der Tradition der Theologen findet, die Produktion und Verteilung dieses Wissens jahrhundertelang monopolisiert haben. Obwohl sich die Muslime kaum dieser Tatsache bewußt werden, ist der Islam aber aufgrund dieser Verflechtung tief in ihrer allgemeinen Sprache verankert. Infolgedessen produziert er einen stillschweigenden Hang, eine unbemerkbare Prädisposition zugunsten bestimmter Denkweisen. Er bildet also einen integralen Bestandteil des sozialen Habitus eines jeden islamisch geprägten Menschen und ist als solcher der Individualisierung zugänglich (Elias, 1987a, S.244). Daher trägt jeder Muslime, verschieden wie er oder sie von allen anderen sein mag, ein spezifisches Gepräge an sich, das er mit anderen Angehörige seiner Gesellschaft teilt. Der geringere Spielraum und die unterschiedlichen Muster der Individualisierung in weniger entwickelten Gesellschaften ändern nicht die Tatsache, daß der Islam als sozialer Habitus der Menschen einer Individualisierung zugänglich ist. Dieses Faktum macht unterschiedliche gruppenspezifische Islam-Stile möglich. Sie sind gruppenspezifische Ausprägungen einer Art, die Welt zu erfahren und sich entsprechend zu verhalten. Die verschiedenen islamischen Strömungen manifestieren die gruppenspezifische Differenzierung dieser Erfahrungswelt. Diese Tatsache verbietet die undifferenzierte Identifizierung einer Entwicklungsform des normativen Bildes, das eine bestimmte Gruppe von  Menschen von der sozialen Welt hat, eine bestimmte  Entwicklungsform der normativen Gesamtvision, eine gruppenspezifische Entwicklungsform der  integrierenden Gesamtvorstellung von Menschen als Individuen und als Gesellschaften mit "dem" Islam.

 

2. Zum Soziogenese des Demokratiebegriffes.

 

Zuweilen werden auch keine Unterschiede gemacht zwischen "latenter" bzw. "funktionaler" Demokratisierung und "manifester" bzw. "institutioneller " Demokratisierung. Daraus folgt in der Regel eine Gleichsetzung der Demokratie als statischer Zustandsbegriff mit ihren symptomatischen Aspekten, um in einem Vergleich ihre Inkompatibilität mit "dem" Islam nachzuweisen (vergl. Klaff, 1987). Damit macht man sich die fundamentalistische Position der islamischen Geistlichkeit zu eigen und erklärt: "Der Islam ist mit den gewachsenen Werten und Tugenden der westlichen Demokratien unvereinbar." (Barreau)[1].

 

An dieser Feststellung sind unschwer Spuren jahrhundertealter Auseinandersetzungen zweier sich gegenseitig bedingender extremer Positionen von Etablierten und Außenseitern als ein Teilaspekt des Staatsbildungsprozesses festzustellen, die den Demokratiebegriff als einen  Spannungs- und Konfliktbegriff  ausweist. In der griechischen Antike als symbolischer Repräsentant einer besonderen Form der staatlichen Herrschaft der Gesellschaft entstanden, verwandelte sich die Demokratie seit der französischen Revolution und der allmählichen Nationalstaatenbildung in Europa zu einer Aufstiegsideologie der Außenseiter dieser Staatsgesellschaften. Als ihre Utopie erscheint sie wie ein inhaltlicher Auftrag, bzw. wie ein im Rahmen einer sozialen Bewegung einzulösender Staatszweck ("Normative Grundlagen der Demokratie"). Mit dem allmählichen Aufstieg der ehemaligen Außenseiter zu Etabliertenpositionen, der einherging mit der Besetzung von Regierungspositionen, d.h. der integrierenden und koordinierenden Kommandopositionen der europäischen, staatsgesellschaftlichen Integrationsebenen durch die Parteienvertreter des Berufsbürgertums und später auch der Arbeiterklasse, verwandelte sich die Demokratie zu einer Art Erhaltungsideologie der Herrschaft und zu einem bloßen Modus der Herrschaftsbildung ("Ordnungspolitische Grundlage der Demokratie").

 

Zu einer Art Gruppencharisma der europäischen Staatsgesellschaften gegenüber den als demokratie-unfähig stigmatisierten Menschen der weniger entwickelten Gesellschaften erhoben, wurde diese Ordnungsform seit der Entstehung der bipolaren Hauptspannungsachse der zwischenstaatlichen Beziehungen mit dem "Kapitalismus" identifiziert, der gegen den "Kommunismus" verteidigt werden müßte. Als ein affektiv besetztes Glaubenssystem diente dieser zu einem Synonym für  "Kapitalismus" entwickelte Demokratiebegriff bis zum Ende des kalten Krieges und der neuerlichen Entstehung einer multipolaren Spannungsachse der zwischenstaatlichen Beziehungen zur Legitimation der Unterstützung jeglicher Form undemokratischer Herrschaft und damit der Unterdrückung jeglicher demokratischen Bestrebungen und entsprechend sich herausbildenden Institutionen in den Ländern der "Dritten Welt" - im Rahmen eben dieser Demokratie!

 

Aus dieser Figurationsdynamik heraus gingen jene Modernisierungsprozesse hervor, die, nach Überzeugung der Modernisierungstheretiker, gleichzeitig eine Entwicklung zu einer Demokratisierung der "Dritten Welt" evozieren würden.

 

Was wir aber gegenwärtig in den islamisch geprägten Gesellschaften erleben, sind soziale Bewegungen, die eine institutionelle Entdemokratiserung der Staatsgesellschaften anstreben bzw. wie im Falle Iran verfassungsmäßig vernakerten.

 

I. Zur verfassungsmäßigen Verankerung institutioneller Entdemkratisierung im Iran

 

Nach einer Reihe von staatstheoretischen Schriften der fundamentalistischen Theoretiker über die islamische Staatsform stellt daher die nachrevolutionäre Verfassung Irans ein exemplarisches Beispiel von "Islamischer Republik" fundamentalistischer Prägung zur Verfügung, das nicht nur als Verfassungsprinzip von besonderer Bedeutung ist. Sie ist auch im Vergleich zu der vorrevolutionären Verfassung und dem ebenfalls islamisch geprägten Verfassungsentwurf von Juni 1979 Ausdruck einer institutionellen Entdemokratiserung. Als ein realexistierendes islamisch-fundamentalistisches Ordnungsmodell  verdrängte sie diese den belgischen bzw französischen Vorbildern folgenden Staatskonzeptionen zugunsten einer fundamentalistischen Interpretation der klassischen schitischen Staatsrechtslehre.

 

Mit dieser Verfassung wird zwar institutionell ein Schlußstrich gezogen unter die 2500 Jahre währende Monarchie; durch ihre republikanische und islamische, speziell aber schiitische Spezifika repräsentiert sie aber jene Widersprüche, die zur Entstehung der Islamischen Republik führten.

 

Äußerlich gesehen sind der neuen iranischen Verfassung wesentliche rechtsstaatliche Strukturen  und Elemente nicht abzusprechen. Allerdings führt die Integration dieser Elemente in das islamische, speziell schiitische Staatsrecht zu einer wesentlichen Umwertung der Werte (Binswanger, 323). Daher zeichnet die Verfassung zwar das Bild einer repräsentativen Demokratie mit Ein-Kammer-System und einem Satz bekannter rechtsstaatlicher Attribute.  Mit seinem "Führungsprinzip" hebt sie aber auch praktisch die bindend vorgeschriebene Gewaltenteilung auf, deren Koordination dem Präsidenten der Republik obliegen soll.

 

Die Verankerung der Dominanz der Religion bzw. der Geistlichkeit, die Übergabe der Justiz an die Theologen und die neue Definition der Souveränität unterscheidet sie maßgeblich von den republikanischen und rechtsstaatlichen Traditionen der Verfassungen. Der entscheidende Unterschied entsteht aber durch den Valjat-e Faqhih, die "Islamische Führerschaft" bzw. "Statthalterschaft der Rechtsgelehrten", die ein Novum in der Verfassungsgeschichte der modernen Staaten ist und zur Entwicklung einer Verfassung führt, die logisch zwar inkonsequent, aber realgeschichtlich konsequent durch das Volk bestätigt wurde.

 

1. Die Ersetzung der Souveränität des Volkes durch die "alleinige Souveränität " Gottes 

 

Wesentlicher Aspekt institutioneller Entdemokreatisierung Irans ist die Ersetzung der Souveränität des Volkes durch die Souveränität Gottes, sowie die Einschränkung von "Würde und Wert des Menschen und seiner Freiheit" durch "seine Verantwortung gegenüber Gott" wie sie in Grundsatz 2 der Verfassung hervorgehoben wird: "Die Islamische Republik ist eine Ordnung, die basiert auf dem Glauben an:

 

1.   einen Gott (La ilaha illa´llah), seine alleinige Souveränität, seine Anordnungen und die Notwendigkeit, sich seiner Ordnung zu unterwerfen;

 

2.      die göttliche Offenbarung und deren fundamentale Rolle für die Gesetzgebung;

 

3.      den Tag des jüngsten Gerichts und seine konstruktive Rolle für die Entwicklung des Menschen auf Gott zu;

 

4.      die Gerechtigkeit Gottes in der Schöpfung und seinen Anordnungen;

 

5.      das Imamat und seine permanente Führung, die der islamischen Revolution Kontinuität verleiht;

 

6.      Würde und Wert des Menschen und seine Freiheit und gleichzeitig seine Verantwortung gegenüber Gott"

 

Dieser Grundsatz, der die islamische Theokratie legitimiert, ist vor allem durch seine 1.,2. und 5. Absätze für das staatsrechtliche Konzept der islamischen Republik im Allgemeinen und durch den 6. Abs. für die "islamisch" eingeschränkten Menschen- und Grundrechte im besonderen relevant.

 

Entscheidend ist, daß in dieser Staatsgesellschaft die  Gottes "alleinige Souveränität"  die Legislative Funktion des Parlamentes aufhebt. Obwohl das Parlament, die "Nationale Konsultativversammlung" (Majlis-e shura-ye melli) Organ der Legislative sein soll, wird die Gesetzgebung praktisch von dem "Überwachungsrat" wahrgenommen. Die legislative Kompetenz der Versammlung, für die keine Fraktionsbildung sondern nur Fachausschüsse vorgesehen wurden, wird durch Art. 72 eingeschränkt: Die Kammer kann keine Gesetze erlassen, die der Verfassung und den islamischen Geboten entsprechend der offiziellen religiösen Rechtsschule des Landes widersprechen. Die Entscheidung über eine solche Unvereinbarkeit trifft nach Grundsatz 96 der "Überwachungsrat" (shura-ye negahban). Als eine Art islamische  verfassungsgerichtliche Institution prüft der Rat alle Beschlüsse des "Parlaments", ohne daß es - im Unterschied zum Verfassungsentwurf - eines gesonderten Antrages auf "Normenkontrolle" bedürfte. Das Parlament ist verpflichtet, alle Beschlüsse und Gesetze dem "Wächterrat" zuzuleiten. Erst nach der Überprüfung  durch den Rat erhalten die Gesetze und Verordnungen Rechtsgültigkeit. Fällt das Urteil dieses Gremiums negativ aus, müssen die Vorlagen vom Parlament überarbeitet werden (Grundsatz 94). Die Befugnisse des "Überwachungsrates" gehen sogar soweit, daß seine Mitglieder in die Parlamentsberatungen eingreifen können, um, wie es heißt, das Verfahren zu beschleunigen (Grundsatz 96 u. 97).

 

Damit ist der "Überwachungsrat" neben seinen Funktionen der Überwachung der Referenda, der Wahl der Abgeordneten und des Staatspräsidenten, die eigentliche Legislative. Der "Überwachungsrat" übt nicht nur eine Funktion zwischen Verfassungsgericht und geistlicher Überwachungsinstanz aus (Grundsatz 91). Seine Zuständigkeit ist formal so weitgehend, daß ohne "Überwachungsrat" dem Parlament keine Befugnisse zustehen (Grundsatz 93). Daher fehlt in der Verfassung der Ausdruck der mittelbaren Souveränität, die demokratische Vertretungsorgane wahrnehmen, obwohl die Kompetenz des "Parlamentes"  den Verordnungs- und Gesetzgebungsbereich umfaßt. Die mittelbare Souveränität ist Schriftgelehrten vorbehalten, die Gott repräsentieren. Mit dem "Überwachungsrat" wird  nicht nur die Souveränität des Volkes durch die Souveränität Gottes ersetzt; mit diesem Organ monopolisiert sich die Geistlichkeit die Definitionsmacht, was Ordnung sei, der sich als   Gottes Ordnung die Menschen zu unterwerfen haben.

 

2. Schriftgelehrten-Herrschaft als Ausdruck des fundamentalistischen Konzeptes von Menschen als Individuen und Gesellschaft.

 

Mit der fundamentalen Rolle der göttlichen Offenbarung für die Gesetzgebung ist in Gestalt des "Überwachungsrates" nicht nur die Souveränität des Volkes in Abrede gestellt, durch dessen revolutionäre Gewalt solch eine Verfassung überhaupt möglich war; auch das demokratische Konzept vom "autonomen Menschen" wird durch das Konzept des unmündigen Menschen ersetzt. Mit dem Glauben an das Imamat und seine permanente Führung gem. § 2, Abs. 5  wird die absolute Machtposition der Geistlichkeit in Gestalt des "Führers" (rahbar) als die höchste Autorität des Landes festgeschrieben, dem jeder Mensch zur unbedingten Gefolgschaft verpflichtet ist.

 

Mit dem § 2, Abs. 5 wird die "Islamische Führerschaft" ("valajat-e Faqih") bzw. der islamische Führer, wie sie synonym in der Verfassung vorkommen, in seiner Machtposition vom Anspruch des 12. Imams auf die Führung der islamischen Gemeinschaft abgeleitet. Die Verfassung entspricht in diesem Punkt der von Ay. Chomeini und anderen schiitisch-fundamentalistischen Geistlichen vertretenen Ansicht, daß die Gläubigen unbedingt geleitet werden müssen, weil sie unmündig seien.[2] Nach dieser fundamentalistischen Interpretation der schiitischen Staatslehre der klassischen Zeit steht die faktische politische Herrschaft - und die religiöse Leitung der Gemeinde - nur einem leiblichen Nachfahren des Propheten zu. Da der zwölfte aus der genealogischen Kette der Imame, Muhammad al-Mahdi, 873 n. Ch. verschwand, riß die Reihe ab. Nach schiitischer Auffassung ist er nicht tot, sondern entrückt in der "großen Verborgenheit". Seine Wiederkehr wird erwartet; bis dahin obliegt die Führung der Gemeinde einem islamischen Theologen und Rechtsexperten (faqih). Diese Position bezieht nun auch Grundsatz 5 der Verfassung: "Während der Verborgenheit des Mahdi (Vali-ye asr) ...obliegt in der Islamischen Republik Iran die Verwaltung der Staatsgeschäfte und die Führung der Gemeinde ( valayat-e amr va valayat-e ummat) einem Theologen (Faqih), der gut beleumdet (adel) und tugendhaft ist, die Erfordernisse der Zeit kennt, der mutig ...ist und von der Mehrheit des Volkes anerkannt wird."

 

Damit wird der "Faqih" nicht ausdrücklich vom Volk gewählt sondern nur anerkannt. Im Idealfall bleibt er lebenslang im Amt, ohne "demokratische Kontrolle" durch regelmäßige Wahlen. Mit der Anerkennung wird auch formal die göttliche Souveränität über die des Volkes gestellt. Durch die Reservierung des höchsten Staatsamtes für die Geistlichkeit (Grundsatz 5, 107 u. 109), ist das Volk auch von seiner eigener Führung grundsätzlich ausgeschlossen.

 

Darüber, ob jemand und wer die Voraussetzungen für einen "Islamischen Führer" erfüllt und besitzt, entscheidet der "Expertenrat". Der Expertenrat, der den künftigen Führer bzw. die Kandidaten bestimmt, unterstreicht die institutionelle Entmachtung des Volkes und des Parlamentes. Damit ist die Nachfolgeregelung im Verfassungsorgan "Valajat-e Faqih" an eine kleine Gruppe auserwählter Geistlicher gebunden und dem Parlament und der Exekutive entzogen (Grundsatz 108). 

 

Sichert der "Überwachungsamt" die Macht der Geistlichkeit in der täglichen politischen Auseinandersetzungen, so erhält der "Expertenrat" das System personell. Offiziell werden die Mitglieder des Expertenrates vom Volk gewählt. Das demokratische Element an diesem Procedere ist allerdings stark beschnitten, da die Voraussetzungen für diese Expertenposten von den Theologen des ersten Überwachungsrates definiert und vom Führer ratifiziert wurden. Spätere Modifikationen obliegen der Expertenversammlung.

 

Der Führer hat sowohl die klassischen Prärogativen des Kalifen als auch die Charakteristika eines Monarchen in einer herkömmlichen islamischen konstitutionellen Monarchie. Einmal anerkannt, hat er fast ein Machtmonopol. Der Staat wird von ihm direkt oder indirekt kontrolliert: er bestimmt die 6 Theologen des Überwachungsrates (Grundsatz 91, Satz 2), durch die er mittelbar die Aufsicht über das Parlament erhält. Er besetzt die höchste juristische Instanz des Landes, wodurch die Judikative an den "Führer" gebunden wird (Grundsatz 110, Satz 2); Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Grundsatz 110, Satz 3, a,b,d,), wodurch die Mitteln der physischen Gewaltanwendung und -androhung monopolisiert wird. Seine "Pflicht" ist es, im obersten Nationalen Verteidigungsrat die Aktionen aller Einheiten zu koordinieren und die Befehlsgewalt auszuüben (Grundsatz 110, Satz 3, c). Er erklärt (auf Vorschlag des obersten Verteidigungsrates) Krieg und Frieden (Grundsatz 110, e). Neben Judikative und Legislative gebietet er mittelbar auch die Exekutive. Er bestätigt den Staatspräsidenten nach der Wahl durch das Volk oder setzt ihn wieder ab, allerdings nach einem Spruch des obersten Gerichtshofes oder nach Abstimmung durch das Parlament (Grundsatz 110, Satz 4, u. 5); er hat das Recht der Begnadigung oder Strafmilderung ( Grundsatz 110, Satz 6). Das einzige mittelbare Kontrollorgan über den "Islamischen Führer" ist also der Expertenrat, der über seine Amtsunfähigkeit bzw. über den Bestand der moralischen Qualitäten des "Faqih" entscheidet. Der Expertenrat hat als einzige Institution die Befugnis, den "Islamischen Führer" abzusetzen

 

3. Der iranischen Verfassung fehlt die Tendenz, die Rechte der Bürger gegen den Staat abzusichern

 

Konsequenterweise fehlt der iranischen Verfassung die Tendenz, die Rechte der Bürger gegen den Staat abzusichern, wie sie für Verfassungen in der Nachfolge des Liberalismus typisch ist. Sie versteht sich eher als eine schriftliche Fixierung längst vorgegebener göttlicher Gesetze und aus diesen abgeleiteter Regelungen für die Gestaltung des Lebens im Staate sowie als Zukunftsprogramm (Tellenbach, S. 262). Zwar findet sich auch ein Katalog von "Grundrechten"  in der Verfassung der "Islamischen Republik". Diese hat im übrigen einen Großteil derartiger Rechte mit wenigen Abänderungen in der Formulierung schon aus der vorrevolutionären Verfassung übernommen. Sie sind aber nicht nur gesetzlich eingeschränkt, sondern auch durch die islamischen Gebote und Sharia. Daher sind Grundrechte in der "Islamischen Republik"  keine Rechte, an denen die Gewalt des Staates endet; solche Rechte sind scheinbar in einem Gottesstaat undenkbar (Tellenbach, 266). Denn diese Staatsgesellschaft glaubt gem. §2, Abs. 6 an die "Verantwortung gegenüber Gott", die  "Würde und Wert des Menschen und seiner Freiheit" jene, durch die Geistlichkeit bestimmbare, Grenzen setzt.

 

II. Zur Soziogenese und Psychogenese des "Islamischen Fundamentalismus"

 

Angesicht der Tatsache, daß eine erfolgreiche Revolution, die Ergebnis einer veränderten Machtbalance zwischen der Regierung und den Regierten ist, stellt sich die Frage, warum die ehemaligen Außenseiter die eroberte Macht freiwillig einer religiösen Elite aushändigen, die sie ausdrücklich als unmündig erklärt. Mit anderen Worten: welche sind die Soziogenese und Psychogenese des "Islamischen Fundamentalismus", die zu einer institutionellen Entdemokratiserung der sozialen Kontrolle führen und zwar angesichts einer funktionalen Demokratisierung als Ergebnis der "Modernisierung".

 

2. Zur funktionalen Demokratisierung als Funktion sozialer Differenzierung.

 

Einer der zentralen Aspekte der "Modernisierung" ist eine soziale Differenzierung, die mit entsprechenden Desintegrationsprozessen und sozialen Auf- und Abstigesprozessen einhergeht. Diese Prozesse wurden realtypisch anhand der Untersuchung der iranischen Modernisierung auch festgetsllt (vergl. D. Gholamasad, 1985): Als Funktion der Kommerzialisierung (vor allem des Grund und Bodens im Zuge der Landreform), der Industrialisierung (und der damit einhergehenden zunächst formellen Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital) sowie der Säkularisierung des Erziehungs- und Rechtswesens (die zur tendenziellen Entfunktionalisierung der Geistlichkeit als früherem Funktionsträger in diesen Bereichen führt) geht in der Regel eine soziale Differenzierung einher, die mit der Desintegration des agrarischen und tribalen Gemeinwesens nicht nur zu einem wahrnehmbaren Schub der Urbanisierung und einer Hypertrophie des tertiären Sektors der "Dritten Welt" führte; in den islamisch geprägten Gesellschaften  führte sie zudem nicht nur zu einer funktionalen Demokratisierung sondern auch zu einer, von den Betroffenen als moralisches Chaos wahrgenommenen, längeren anomischen Phase der Gesellschaft.

 

Was sich an der emirischen Untersuchung der iranischen Entwicklung bestätigen und verallgemeinern läßt, ist: Im Laufe dieser Gesellschaftsentwicklung in Richtung einer zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der gesellschaftlichen Positionen und Funktionen verändert sich in der Regel auch die Art und der Grad der Abhängigkeiten zwischen den Menschen. Durch die fortschreitende Funktionsteilung werden die Interdependenzketten, die Menschen aneinander binden, immer länger. Dadurch wird der einzelne aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Funktion zur Befriedigung existentieller Bedürfnisse auf immer mehr Menschen angewiesen.

 

Die Veränderung der Abhängigkeiten in diese Richtung bedeutet eine Verringerung der Machtdifferentiale zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten und Gruppen der Gesellschaft, solange sie in den sich ständig wandelnden Funktionskreislauf dieser Gesellschaft miteinbezogen sind. Mit dieser spezifischen Verlagerung der Machtgewichte verändern sich in der Regel nicht nur die Verhältnisse zwischen Eltern und Kinder, Männer und Frauen, verschiedenen ethnischen Gruppen sowie sonstigen sozialen Formationen. Auch die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Regierten und Regierenden veränderten sich. Die Regierenden, jene Gruppe, die den Zugang zu den in der Gesellschaft vorhandenen Machtchancen und die Verfügung über diese besitzt, werden immer abhängiger von den Außenseitergruppen, die vom Zugang zu diesen Machtchancen ausgeschlossen sind.

 

Diese Veränderungen der Machtstrukturen wird als funktionale, bzw. latente Demokratisierung bezeichnet (Elias, 1986, S.70/72). Dies bedeutet, daß sich zwar eine Verringerung der Machtdifferentiale real vollzieht, sie jedoch im Bewußtsein der Menschen noch nicht vorhanden sein muß und sich institutionell noch nicht niedergeschlagen hat.

 

2.) Der Fundamentalismus als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus

 

Damit begegnen wir einer Konstellation, in der die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in Richtung auf eine andere treibt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf jener früheren Stufe verharren (Elias, 1987a, S.281). Die gemeinsame gesellschaftliche Ausprägung des individuellen Verhaltens, der Sprache und Denkweise, der Gefühlslage und vor allem der Gewissens- und Idealbildung - kurz: das Grundschema der Persönlichkeit - verändert sich im Vergleich zur relativ rapiden sozialen Differenzierung relativ langsamer.

 

Die Loyalitäts- sowie generations- und geschlechtsspezifischen Konflikte sind als "Übergangskonflikte"  ebenso Ausdruck solchen Nachhinkeffekts des sozialen Habitus wie romantische bzw. fundamentalistische Bewegungen. Sie sind Folge eines "Doppelbinderprozesses" mit entsprechenden Abwehrmechanismen.

 

Entscheidend für die weitere Richtung der Entwicklung ist u.a., inwiefern der neu entstandene Funktionszusammenhang als eine Integrationseinheit fungieren kann, inwiefern sie die materiellen und emotionalen Bedürfnisse der betroffenen Menschen befriedigen und somit als neues Identifizierungsobjekt dienen kann. Wenn also die bisherigen Außenseiter, die bisherigen Machtschwächeren nicht angemessen an der Verfügung über die vorhandenen Machtchancen beteiligt werden oder ihnen zumindest keine entsprechende Konzessionen gemacht werden, können die Integrierungsspannungen und -konflikte eskalieren. Je kleiner aber die - mit der sozialen Differenzierung einhergehenden - Machtdifferentiale werden, desto deutlicher treten die nicht-ökonomischen Aspekte der Spannungen und Konflikt ans Licht; es bedeutet, daß nicht mehr vorwiegend die Verteilung von Produktions- und Konsumtionsmittel  sondern auch die Verfügung über "symbolisches Kapital", die Fragen der gesellschaftlichen Definitionsmacht im Mittelpunkt sozialer Auseinandersetzungen rücken. Die relative Verringerung der Machtdifferentiale steigert außerdem die Intensität und Heftigkeit der offenen Konflikte.

 

Aus einer derartigen Konstellation heraus kann eine soziale Bewegung von Menschen entstehen, die zwar die technischen und ökonomischen Vorteile der Modernisierung befürworten, aber die damit verbundenen notwendigen Veränderungen des sozialen Habitus nicht verkraften können. Diese Bewegung schöpft zwar ihre zunehmende Macht aus der sozialen Dynamik, die zu einer latenten Demokratisierung der  Gesellschaft führt, sie sieht aber die "normative Zielfunktion" der sich entwickelnden Staatsgesellschaft in einer institutionellen Entdemokratisierung der sozialen Kontrolle. Statt "Pluralismus", als Vervielfältigung institutioneller Multipluralität der Kontrolle, strebt diese Bewegung einen "Ideen- und Gruppenmonismus" an, der die relativ geringe Konflikt- und Konsensfähigkeit der sie tragenden sozialen Gruppen manifestiert.

 

Dieser "Ideen- und Gruppenmonismus" kann jedoch unterschiedliche chiliastische Artikulationsformen annehmen (Gholamasad, 559ff.). Was sie alle gemeinsam teilen, ist ihre Ablehnung einer "pluralistischen Gesellschaft", als eines bestimmten Arrangements der Institutionen, die sich gegenseitig oder die Regierung kontrollieren können. Als eine kollektive Aufbruchsbereitschaft zur Herstellung eines paradiesischen Glückszustandes der Menschheit bzw. als eine dadurch entfesselte Bewegung ist der Chiliasmus (Mühlmann, 1964) Ausdruck der gesamten Gegenschübe der funktionalen Demokratisierung, der eine islamische Artikulationsform ebenso annehmen kann, wie eine christliche, marxistisch-leninistische oder auch eine nationalsozialistische.

 

Die Besonderheit ihrer Artikulationsformen, die ihren Nativismus (Mühlmann, 1964) als eine demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte manifestiert, ist jedoch Funktion des Beziehungsschicksals ihres jeweiligen sozialen Trägers. Als ein idealisiertes Phantasiebild der eigenen Verdienste, der eigenen Sendung und der eigenen Überlegenheit über andere Nationen, für die es sich lohnt zu kämpfen und zu sterben, bekommt dieser vom Chiliasmus getragene Nativismus die Gestalt einer Glaubensvorstellung und verleiht jedem individuellen Mitglied solch einer Bewegung ein stolzes Wir-Gefühl.

 

Der vom schiitischen Chiliasmus getragene Fundamentalismus ist also eine der möglichen Artikulationsformen des Gruppen-Charismas der stigmatisierten sozialen Gruppen, die Träger einer "anti-imperialistischen" Bewegung werden. Er ist Ausdruck des Umschlages eines kollektiven Trauerns der Außenseiter in ihren Hegemonialrausch.

 

Als eine solche Bewegung, die den Verhaltenskanon einer alten Führungsgruppe als "Kultur" und "Tradition" idealisiert und zu Gottes unveränderbarem Gesetz (Shari'a) hypostasiert, dominiert sie über die komplementären sozialen Prozesse einer funktionalen Demokratisierung. Dies ist nur möglich, weil sich die Balance zwischen strukturellen Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Empfindensmuster verschiebt zugunsten der Kontinuität einer - als habitualisierten Verhaltensvorschriften - vertrauten Schicht des sozialen Habitus der sie tragenden Menschen. Diese vertraute Schicht ihres sozialen Habitus idealisieren sie als "Islam", dem als Gottes unveränderbare Gebote ewige Gültigkeit zukommt.

 

Von diesen Menschen werden diese Gebote und -verbote als ein spezifischer Typus einer selbstauferlegten Regulierung menschlichen Verhaltens und menschlicher Beziehungen affektiv stärker besetzt. Indem sie durch ein ihnen vermitteltes tugendhaftes Geborgenheitsgefühl sowie durch ein Gefühl der Freude und Selbstzufriedenheit ihre, als Funktion ihrer Außenseiterposition entstandenen "Minderwertigkeitsgefühle" zu überwinden hilft und ihnen ein persönliches Ideal einer individuellen Sinnerfüllung verleiht, werden diese Gebote zum Ich-Ideal dieser Menschen. Sie treten so ins Zentrum ihres Selbstbildes, ihrer sozialen Glaubensdoktrin und ihrer Wertskala und führen als Objekt ihrer gemeinsamen Identifizierung zu ihrer Gruppenkohäsion und werden damit zu einer zusätzlichen Machtquelle.

 

Für diese Menschen übernehmen diese idealisierten und mit Fremdzwängen ausgestatteten Gebote verstärkter als zuvor die gesamte Gewissensfunktion, weil ihre Selbstzwangsinstanzen für die sich aus der sozialen Dynamik  resultierende Veränderung der Art und Weise, wie die Menschengruppen aneinander gebunden sind, relativ triebdurchlässig, gebrechlich, labil und weniger autonom sind. Ihre nachhinkenden Selbstzwänge bedürfen in dieser Lage scheinbar einer ständigen Unterstützung und Verstärkung durch Fremdzwänge.

 

Überfordert durch die realen Zwänge - sowohl der eigenen und nicht-menschlichen Naturgewalten als auch der anderer Gesellschaftsmitglieder und als feindlich empfundenen Gruppen - , die sich durch die strukturellen Veränderungen funktionaler Interdependenzen ergeben, flüchten sie in die "Zwänge der Phantasie", um den Abbau ihrer eigenen unerträglich erscheinenden Spannungen, d.h. den Konflikt zwischen den als Selbstzwänge angezüchteten gesellschaftlichen Geboten und Verboten und den zurückzuhaltenden spontanen Handlungsimpulsen (Elias, 1987a, S.168), im Sinne einer "Heilssicherung" zur "normativen Zielfunktion" ihres Staates zu machen. Getrieben von diesem Phantasiebezug erstürmen sie die Staatsmacht, um sie nach der Eroberung einer religiösen Elite zur Verfügung zu stellen, die sie selbst ausdrücklich für unmündig erklärt und die im Namen Gottes auszuübende Macht ausschließlich als ihr Monopol beansprucht.

 

Die Grundlage der Akzeptanz der Ersetzung der Volkssouveränität durch die Souveränität Gottes, dessen Gebote "weise und gerechte Rechtsgelehrte" als geltendes Recht auslegen und sanktionieren, ist die indirekte Anerkennung der Gebrechlichkeit der eigenen Selbstregulierung und der damit einhergehenden Angst vor "individueller Freiheit" im Sinne der Verschiebung der Balance zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zugunsten der letzteren. Weil diese Menschen nicht über relativ angemessen starke und gleichmäßige Selbststeuerungsmittel verfügen, soll die "Islamisierung" des Alltagslebens, z.B. der weiblichen Kleiderordnung, die scheinbaren Reiz- und Spannungsquellen verschleiern; desgleichen soll der Ideen- und Gruppenmonismus ihre durch relativ unangemessene Distanzierungsfähigkeit ausgelöste  Verunsicherung durch den sich anbahnenden Pluralismus verhindern.

 

Weil sie kaum einen Zugang zu einer Erfahrungsform und einer Vorstellung haben, die es Menschen möglich macht, sich ihrer selbst zugleich auch außerhalb und unabhängig von der eigenen Gruppe, als einer der eigenen Gruppe gewissermaßen gegenüberstehende Person bewußt zu werden, werden sie nicht nur durch jeden institutionellen Ausdruck einer Verringerung der Machtdifferentiale zwischen allen Gruppen und allen einzelnen Individuen im Zuge der wachsenden Spezialisierung oder Differenzierung aller gesellschaftlichen Betätigungen verunsichert. Ihre relativ geringe Selbstdistanzierungsfähigkeit, dieses Ausmaß und Muster der Individualisierung, manifestiert sich zudem als eine relativ weniger entwickelte Konflikt- und Konsensfähigkeit zu einer Vorstellung vom Wesen der Politik, die anstatt eines "täglichen Streites um das jeweils Richtige" den "Vollzug göttlichen Willens, orientiert an der Durchsetzung der Shari'a" (Klaff, 1987, S. 47) zur Handlungsmaxime macht.

 

Diese institutionelle Entdemokratisierung ist nur dann verständlich, wenn man berücksichtigt, daß jedes menschliche Verhalten gegenüber sich selbst, gegenüber anderen Menschen und gegenüber den nicht-menschlichen Naturprozessen nur steuerbar ist durch die sozial vermittelten und als solche emotional verankerten Vorstellungen von sich selbst, von anderen Menschen und von nicht-menschlichen Naturprozessen. Diese symbolischen Repräsentanten der Realität als "soziale A'priorien" (Elias, 1989) sind mit entsprechenden Denkweisen als gemeinsam kommunizierbare Orientierungs- und Kontrollmittel zwar einer ständigen Veränderung unterworfen, weisen aber auch eine gewisse Kontinuität auf. Gemessen an individuellen Zeitdimensionen erscheinen sie den Menschen entweder als unveränderbare Natur- oder göttliche Konstante, weil und solange sie von ihnen einverleibt und zu ihrer "zweiten Natur" geworden sind. Als "soziale A'priorien" prägen sie das individuelle Verhalten durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen. Dieser Sozialisierungsprozeß ist aber nur möglich durch die Individualisierung dieser Verhaltens- und Erlebensmuster: als Bedingung der Möglichkeit der Reproduktion bzw. als Grundmechanismus der relativen Stabilisierung der menschlichen Gesellschaft.

 

Der Überlebenswert dieser gesellschaftlichen Prägung individuellen Verhaltens und Erlebens liegt jedoch in einer angemessenen Balance zwischen Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Erlebensmuster. Die relative Kontinuität dieser Muster verliert als ein rigider "Wiederholungszwang" ihre, sich aus der natürlichen Konstitutionsbedingung der menschlichen Gesellschaft erworbene lebenserhaltende Funktion, wenn die Wandlung dieser Muster der unbeabsichtigten Dynamik der sozialen Entwicklung zu sehr nachhinkt und so zu Verhaltens- und Empfindungsfehlsteuerungen führt. Als unangemessenes Reaktionsmuster ist dann der soziale Habitus verantwortlich für eine unkontrollierbare Dynamik sozialer Prozesse und damit für die Erhöhung der menschlichen Unsicherheit gegenüber der "Natur", gegenüber sich selbst und gegenüber sozialen Prozessen.

 

Mit dieser Verunsicherung steigt erneut der Grad des Engagements, der mit einem erneuten Grad der affekt- und triebgesteuerten Wahrnehmung zu einer Eskalation des "Doppelbinderprozesses" bzw "des Teufelskreises" mit entsprechenden Wunsch- und Furchtbildern beiträgt.

 

Die Re-Islamisierung ist in diesem Sinne Symptom für eine solche, aus dieser Doppelbinderfiguration resultierende Mentalität. Als eine Art Revivalismus bzw. Revitalisierung früherer Schichten des sozialen Habitus ist diese Persönlichkeitsstruktur, diese Glaubens- und Werthaltung und Affektlage usw. Funktion einer "Modernisierung", die als eine wachstumsorientierte ökonomische Entwicklung zur Desintegration früherer Integrationseinheiten, z.B. Stämme, Sippen, Großfamilien, Dörfer u.s.w., und damit einhergehenden traumatischen sozialen Auf- und Abstiegsprozessen führt, ohne die Erfahrung der aus diesen Zusammenhängen entrissenen Menschen angemessen transformieren  zu können. Die mit dieser sozialen Entbindung einhergehende "Entwurzelung" der Menschen führte also nicht notwendig und gleichzeitig zu weiteren Individualisierungsschüben, d.h. zu Verschiebung ihrer Wir-Ich-Balance zugunsten einer stärkeren Betonung der Ich-Identität der einzelnen Menschen und einer damit einhergehenden Verschiebung der Balance zwischen ihrer Wir-Bezüge im Sinne einer emotionaler Loslösung von den überlieferten Verbänden und Verlängerung der Reichweite ihrer Identifikation mit anderen Menschen unabhängig von ihrer ethnischen oder konfessionellen Zugehörigkeit.

 

Eine wesentliche Rolle dabei hätten mögliche geregelte Mittel und Wege der Artikulation spielen können, die entsprechend innergesellschaftliche Unabgestimmtheiten vermittelt hätten. Sie wären möglicherweise in der Lage, das Mißverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Ausrichtung des individuellen Strebens und den gesellschaftlichen Möglichkeiten seiner Erfüllung reduzieren und die als moralischen Chaos wahrgenommene Trennung von "Individuum" und "Gesellschaft" bzw. vom Einzelnen und einer sich verstaatlichenden sozialen Großeinheit versöhnen und verbinden helfen.

 

Die sich selbst zusätzlich aus dem Ost-West-Konflikt speisenden Integrierungsspannungen und -Konflikte, die neben "ökonomischen" vor allem Habitusprobleme waren, führten zur massiven Unterdrückung solchermaßen sich herausbildender demokratischer Institutionen wie staatlich weniger gegängelter Presse, Gewerkschaften, sonstige Verbände und politische Parteien, anstatt zu einer Herausbildung entsprechender Mittel und Wege der gesellschaftlichen Kommunikation und Koordination. Als partikulare interessenvertretende und koordinierende Organe hätte sie nicht nur soziale Aufstiegsfunktionen für die beteiligten Menschen spielen können; sie hätten auch als Ordnungsfaktoren gesamtgesellschaftliche Erhaltungsfunktionen übernehmen können.

 

Ihre Erhaltungsfunktion bestünde vor allem in einer sozial angemesseneren Sozialisierung der "entwurzelten" Menschen, indem sie ihre Desorientierung durch angemessenere Repräsentanten der Realität ersetzte und sie sozial angemessener integrierte.

 

Ohne solche institutionelle Formen der Partizipation werden die für die neuen Beziehungen erforderlichen Einstellungen bzw. Verhaltens- und Erlebensmuster entweder überhaupt nicht angeeignet, oder sie bleiben oberflächlich, bilden eine emotional nicht tief genug verankerte Schicht des sozialen Habitus bzw. der Persönlichkeit.

 

Ohne eine stärkere und stabilere Differenzierung des Seelenhaushalts, durch welche die unmittelbar nach außen gerichteten psychischen Funktionen den Charakter eines relativ trieb- und affektfreieren, eines "rationaler" funktionierenden Bewußtseins annehmen könnten (vergl. Elias, 1976), handelt der "entwurzelte" Mensch, dem nur frühere Schichten seines sozialen Habitus als Repräsentanten früherer Integrationsstufen bzw. früherer Führungsschichten zur Verfügung stehen, relativ desorientiert.

 

Verunsichert durch die sozialen Wandlungsprozesse, die ihn vor immer neue Herausforderungen stellen, ist er für sein Überleben in seiner neuen sozialen Funktion und Position unbedingt auf die zuverlässige, unlustvermeidende Übernahme und Wiederholung bestimmter sozialer Verhaltensnormen angewiesen, die sich ihm in Gestalt der ihm vertrauten und seit Ewigkeiten als gültig erscheinenden Verhaltensvorschriften und Glaubenssysteme und/oder in Gestalt "charismatischer Persönlichkeiten" als lebendiges Vorbild idealisiert anbieten.

 

Durch die narzißtischen Verschmelzungsphantasien solchermaßen "entwurzelter" Menschen erhalten Glaubenssysteme wie "der" Islam und charismatische Führerpersönlichkeiten (z.B. Aj. Chomeini) ihre Macht, d.h. ihre gesellschaftlichen Chancen der Verhaltenssteuerung.

 

So kann die etwa als "der" Islam idealisierte frühere Schicht des sozialen Habitus der weniger individualisierten Menschen zum "Zentrum und Kernstück des Staates" (R. Klaff, S. 23) erhoben werden, während deren Personifizierung zum uneingeschränkten bzw. absoluten Herrscher aufsteigt.

 

Die charismatischen Führerpersönlichkeiten solcher sozialer Bewegungen rekrutieren sich in der Regel aus dem Kreis jener Menschen, die neben plagenden Habitusprobleme außerdem aufgrund ihrer schmerzhaften Erfahrung der sozialen Entfunktionalisierung und Entwertung und damit einhergehendem relativem Macht- und Prestigeverlust der realen Entwicklung der Gesellschaft massiven Widerstand entgegensetzen. Die Kerntruppe solcher Führer teilt trotz einer möglichen ökonomischen Partizipation an der Modernisierung ähnliche Erfahrungen und Ideale, die durch massenhafte Identifizierung einen Massencharakter erhalten.

 

Die massenhafte Identifizierung konstituiert einen charismatischen Typ von Herrschaft, der sich als ein Aufstiegstyp der Herrschaft in der Regel aus der sich aus dem Nachhinkeffekt ergebenden Krise speist.

 

Aus diesem Grund trachtet solcher, jeglicher demokratischen Institution gegenüber feindlich eingestellte Typ der Herrschaft nicht nur danach, das staatliche Regelnetz, sondern auch das gesamte Alltagsleben zu kontrollieren bzw. zu "islamisieren".

 

Literatur :

 

Ajatollah Khomeini: Der islamische Staat, Berlin, 1983

 

Barreau, J.-C.: Die unerbittlichen Erlöser, Reinbek bei Hamburg, 1992

 

Binswanger, K.: Das Selbstverständnis der Islamischen Republik Iran im Spiegel ihrer neuen Verfassung; in: Orient, 21, 1980, S. 320ff

 

Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg): Verfassung der Islamischen Republik Iran, Bonn 1980

 

Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen, Ffm, 1987a

 

Elias, N.: Engagement und Distanzierung, Ffm, 1987b

 

Elias, N. Sociology of Knowledge: New Perspectives, in : "Sociology", 1971, V, Nr. 2, S. 149-168 und Nr. 3 , S.355-370

 

Elias, N.: The Symboltheory, in: Theory, Culture & Society, Vol. 6, Nr. 2, Mai 1989, S. 169-216 sowie Nr. 3, August 1989, S. 339-386 und Nr. 4, Nov. 1989, S. 499-537

 

Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Ffm. 1976

 

Elias, N, Die höfische Gesellschaft, Frankfurt/M, 1983

 

Elias, N.: Was ist Soziologie, Weinheim, München, 1986, 5. Auflage

 

Elias, N.: Über Menschen und ihre Emotionen: Ein Beitrag zur Evolution der Gesellschaft; in: Semiotik, Bd. 12, H. 4, 1990, 337ff

 

Elias, N./Scotson, J. L.: Etablierten und Außenseiter, Frankfurt/M., 1990

 

Freud, S.: Massenpsyschologie und Ichanalyse, in : Sigmund Freud Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt /M , 1974

 

Gholamasad, D.: Iran: Die Entstehung der "Islamischen Revolution", Hamburg, 1985

 

Klaff, R.: Islam und Demokratie, Ffm.  Bern, N.Y., Paris, 1987

 

Luhmann, Nikla: Rechtssoziologie, Opladen, 1983

 

Mühlmann, W. E. et al.: Chiliasmus und Nativismus, Berlin 1961, 2. Auflage 1964

 

Shirazi, A.: Die Widersprüche in der Verfassung der Islamischen Republik vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung im nachrevolutionären Iran, Berlin, 1992

 

Tellenbach, S.: Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran vom 15. November 1979, Berlin 1985

 

 



[1]Als im Iran der zum Referendum stehende Name der neuen Republik zur Diskussion stand, sprach sich Ay. Khomeini eindeutig für "Islamische Republik" aus. Er erklärte: "Ich stimme für ``Islamische Republik´´, nicht ein Wort mehr, nicht ein Wort weniger." Und: "Jeder, der sich für ´´Republik`` (Ohne den Zusatz ``islamisch´´) entscheidet, ist ein Feind des Islam. Jeder, der (dem Begriff )  ´´Islamische Republik`` den Begriff ´´demokratisch`` hinzufügt, ist ein Feind des Islam . ..Er will nicht den Islam. Wir aber wollen den Islam" ( Zitiert nach Vorwort zur deutschen Ausgabe von Ay. Khomeini, S.10f).

 

[2]"Die Statthalterschaft des Faghih ist eine relative Angelegenheit, sie wird durch Ernennung übertragen, ein Akt, der vergleichbar ist mit der Ernennung eines Vormundes für Minderjährige. Vom Standpunkt der Aufgabe und der Stellung besteht kein Unterschied zwischen dem Vormund der Nation und einem Vormund für Minderjährige." (Ay. Khomeini, S.61)