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aus: Europa, Islam und Fundamentalismus / (Hg.) Initiative für ein Internationales Kulturzentrum. Bereich Kultur, Kunst, Interkulturelle BildungHannover: IIK Verlag, 1996 (Reihe Interkulturelle Arbeit in Niedersachsen; Bd. 3)
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Eines der Probleme der gegenwärtigen Diskussion über Demokratisierung der
islamisch geprägten Gesellschaften scheint darin zu bestehen, daß man über
keinen gemeinsam kommunizierbaren angemessenen Islam- und
Demokratiebegriff verfügt.
1. Zum Islam als ein Wandlungskontinuum
In der Regel wird der Islam nicht in seiner relativen Autonomie von den in
Gruppen organisierten Menschen einer mehr oder weniger differenzierten
Gesellschaft, sondern als eine von ihnen scheinbar getrennte "Sphäre" begriffen,
die unverändert bzw. identisch mit einer seiner etablierten Ausprägungen wäre.
Betrachtete man die jeweiligen "Sphären" wie z.B. ökonomische, politische oder
religiöse jedoch als menschliche Gruppen in unterschiedlichen sozialen
Positionen (Elias, 1971, S. 150) wie z. B. als Unternehmer, Politiker oder
Geistliche, erwiese sich der Islam als eine relativ autonome Figuration von
Menschen im Verhältnis zu bestimmten Individuen, die sie hier und jetzt bilden.
Er würde sich auf die Gestalt des Zusammenlebens der Kraft ihrer
grundlegenden Interdependenz einander sich gruppierender mehr oder weniger
gläubiger Menschen beziehen. Er ist als selbstverständlich ungeprüft von einer
Generation zur anderen weitergegebenes Erlebens- und Verhaltensmuster von in
spezifischer Art und Grad geprägten Menschen. Als solches gewinnt er heute für
die mehr oder weniger säkularisierten Menschen, die islamisch geprägt sind
einen normativen Charakter.
Was den Islam der Anfangszeit mit dem vom 20. Jh. bzw. dem
Fundamentalismus verbindet, ist nicht so sehr irgendein Wesenskern, der
unverändert geblieben ist, sondern die Kontinuität der Wandlungen, in denen der
Islam des 20. Jh. aus dem der Zeit des Propheten und der Imame hervorging,
verstärkt durch den Umstand, daß es sich um eine erinnerte Kontinuität handelt.
In dieser Prozeßkontinuität würde man sowohl des scheinbar ewig
Unwandelbaren als des Kontinuums eines neuzeitlich nichtwissenschaftlichen
Typs des Wissens und einer normativen Verhaltenserwartung gewahr werden als
auch ihrer Wandlungen.
Als eine bestimmte Art zu denken, repräsentiert daher der Islam ein
Denkmuster, das seine Institutionalisierung in der Tradition der Theologen
findet, die Produktion und Verteilung dieses Wissens Jahrhundertelang
monopolisiert haben. Obwohl sich die Muslime kaum dieser Tatsache bewußt
werden, ist der Islam aber aufgrund dieser Verflechtung tief in ihrer allgemeinen
Sprache verankert. Infolgedessen produziert er einen stillschweigenden Hang,
eine unbemerkbare Prädisposition zugunsten bestimmter Denkweisen.
Er bildet also einen integralen Bestandteil des sozialen Habitus eines jeden
islamisch geprägten Menschen und ist als solcher der Individualisierung
zugänglich (Elias, 1987a, S. 244). Daher trägt jeder Muslime, verschieden wie er
oder sie von allen anderen sein mag, ein spezifisches Gepräge an sich, das er mit
anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt.
Der geringere Spielraum und die unterschiedlichen Muster der
Individualisierung in weniger entwickelten Gesellschaften ändern nicht die
Tatsache, daß der Islam als sozialer Habitus der Menschen einer
Individualisierung zugänglich ist. Dieses Faktum macht unterschiedliche
gruppenspezifische Islam-Stile möglich. Sie sind gruppenspezifische
Ausprägungen einer Art, die Weit zu erfahren und sich entsprechend zu
verhalten. Die verschiedenen islamischen Strömungen manifestieren die
gruppenspezifische Differenzierung dieser Erfahrungswelt. Diese Tatsache
verbietet die undifferenzierte Identifizierung einer Entwicklungsform des
normativen Bildes, das eine bestimmte Gruppe von Menschen von der sozialen
Weit hat, eine bestimmte Entwicklungsform der normativen Gesamtvision, eine
gruppenspezifische Entwicklungsform der integrierenden Gesamtvorstellung
von Menschen als Individuen und als Gesellschaften mit "dem" Islam.
2. Zur Soziogenese des Demokratiebegriffes
Zuweilen werden auch keine Unterschiede gemacht zwischen "latenter" bzw.
"funktionaler" Demokratisierung und "manifester" bzw. "institutioneller
"Demokratisierung. Daraus folgt in der Regel eine Gleichsetzung der
Demokratie als statischer Zustandsbegriff mit ihren symptomatischen Aspekten,
um in einem Vergleich ihre Inkompatibilität mit "dem" Islam nachzuweisen
(vergl. Klaff, 1987). Damit macht man sich die fundamentalistische Position der
islamischen Geistlichkeit zu eigen und erklärt: "Der Islam ist mit den
gewachsenen Werten und Tugenden der westlichen Demokratien unvereinbar"
(Barreau). 1
An dieser Feststellung sind unschwer Spuren Jahrhunderte alter
Auseinandersetzungen zweier sich gegenseitig bedingender extremer Positionen
von Etablierten und Außenseitern als Teilaspekt des Staatsbildungsprozesses
festzustellen, die der Demokratiebegriff als ein Spannungs- und Konfliktbegriff
aufweist. In der griechischen Antike als symbolischer Repräsentant einer
besonderen Form der staatlichen Herrschaft der Gesellschaft entstanden,
verwandelte sich die Demokratie seit der Französischen Revolution und der
allmählichen Nationalstaatenbildung in Europa zu einer Aufstiegsideologie der
Außenseiter dieser Staatsgesellschaften. Als ihre Utopie erscheint sie wie ein
inhaltlicher Auftrag, bzw. wie ein im Rahmen einer sozialen Bewegung
einzulösender Staatszweck ("Normative Grundlagen der Demokratie"). Mit dem
allmählichen Aufstieg der ehemaligen Außenseiter zu Etabliertenpositionen, der
einherging mit der Besetzung von Regierungspositionen, d.h. der integrierenden
und koordinierenden Kommandopositionen der europäischen,
staatsgesellschaftlichen Integrationsebenen durch die Parteienvertreter des
Berufsbürgertums und später auch der Arbeiterklasse, verwandelte sich die
Demokratie zu einer Art Erhaltungsideologie der Herrschaftsgesellschaft und zu
einem bloßen Modus der Herrschaftsbildung ("Ordnungspolitische Grundlage
der Demokratie").
Zu einer Art Gruppencharisma der europäischen Staatsgesellschaften gegenüber
den als demokratie-unfähig stigmatisierten Menschen der weniger entwickelten
Gesellschaften erhoben, wurde diese Ordnungsform seit der Entstehung der
bipolaren Hauptspannungsachse der zwischenstaatlichen Beziehungen mit dem
"Kapitalismus" identifiziert, der gegen den "Kommunismus" verteidigt werden
müßte. Als ein affektiv besetztes Glaubenssystem diente dieser zu einem
Synonym für "Kapitalismus" entwickelte Demokratiebegriff bis zum Ende des
kalten Krieges und der neuerlichen Entstehung einer multipolaren
Spannungsachse der zwischenstaatlichen Beziehungen zur Legitimation der
Unterstützung jeglicher Form undemokratischer Herrschaft und damit zur
Unterdrückung jeglicher demokratischen Bestrebungen und entsprechend sich
herausbildenden Institutionen in den Ländern der "Dritten Welt" - im Rahmen
eben dieser Demokratie!
Aus dieser Figurationsdynamik heraus gingen jene Modernisierungsprozesse
hervor, die, nach Überzeugung der Modernisierungstheoretiker, gleichzeitig eine
Entwicklung zu einer Demokratisierung der "Dritten Welt" evozieren würden.
Was wir aber gegenwärtig in den islamisch geprägten Gesellschaften erleben,
sind soziale Bewegungen, die eine institutionelle Entdemokratiserung der
Staatsgesellschaften anstreben bzw. wie im Falle Iran verfassungsmäßig
verankerten.
I. Zur verfassungsmäßigen Verankerung institutioneller Entdemokratisierung im Iran
Nach einer Reihe von staatstheoretischen Schriften der fundamentalistischen
Theoretiker über die islamische Staatsform stellt daher die nachrevolutionäre
Verfassung Irans ein exemplarisches Beispiel von "Islamischer Republik"
fundamentalistischer Prägung zur Verfügung, das nicht nur als
Verfassungsprinzip von besonderer Bedeutung ist. Sie ist auch im Vergleich zu
der vorrevolutionären Verfassung und dem ebenfalls islamisch geprägten
Verfassungsentwurf vom Juni 1979 Ausdruck einer institutionellen
Entdemokratiserung. Als ein realexistierendes islamisch-fundamentalistisches
Ordnungsmodell verdrängte sie die belgischen bzw. französischen Vorbildern
folgenden Staatskonzeptionen zugunsten fundamentalistischer Interpretation der
klassischen schiitischen Staatsrechtslehre.
Mit dieser Verfassung wird zwar institutionell ein Schlußstrich gezogen unter
die 2500 Jahre währende Monarchie; durch ihre republikanischen und
islamischen, speziell aber schiitischen Spezifika repräsentiert sie aber jene
Widersprüche, die zur Entstehung der Islamischen Republik führten.
Äußerlich gesehen sind der neuen iranischen Verfassung wesentliche
rechtsstaatliche Strukturen und Elemente nicht abzusprechen. Allerdings führt
die Integration dieser Elemente in das islamische, speziell schiitische Staatsrecht
zu einer wesentlichen Umwertung der Werte (Binswanger, 323). Daher zeichnet
die Verfassung zwar das Bild einer repräsentativen Demokratie mit Ein-
Kammer-System und einem Satz bekannter rechtsstaatlicher Attribute. Mit
seinem "Führungsprinzip" hebt sie aber auch praktisch die bindend
vorgeschriebene Gewaltenteilung auf, deren Koordination dem Präsidenten der
Republik obliegen soll.
Die Verankerung der Dominanz der Religion bzw. der Geistlichkeit, die
Übergabe der Justiz an die Theologen und die neue Definition der Souveränität
unterscheidet sie maßgeblich von der republikanischen und rechtsstaatlichen
Traditionen der Verfassungen. Der entscheidende Unterschied entsteht aber
durch den Valjat-e Faqhih, die "Islamische Führerschaft" bzw. "Statthalterschaft
der Rechtsgelehrten", die ein Novum in der Verfassungsgeschichte der
modernen Staaten ist und zur Entwicklung einer Verfassung führt, die logisch
zwar inkonsequent aber realgeschichtlich konsequent durch das Volk bestätigt
wurde.
1. Die Ersetzung der Souveränität des Volkes durch die "alleinige
Souveränität" Gottes
Wesentlicher Aspekt institutioneller Entdemokratisierung Irans ist die Ersetzung
der Souveränität des Volkes durch die Souveränität Gottes, sowie die
Einschränkung der "Würde und Wert des Menschen und seiner Freiheit' durch
"seine Verantwortung gegenüber Gott" wie sie in Grundsatz 2 der Verfassung
hervorgehoben wird: "Die Islamische Republik ist eine Ordnung, die basiert auf
dem Glauben an:
1. einen Gott (La ilaha illa'Ilah), seine alleinige Souveränität, seine
Anordnungen und die Notwendigkeit, sich seiner Ordnung zu unterwerfen;
2. die göttliche Offenbarung und deren fundamentale Rolle für die
Gesetzgebung,
3. den Tag des jüngsten Gerichts und seine konstruktive Rolle für die
Entwicklung des Menschen auf Gott zu;
4. die Gerechtigkeit Gottes in der Schöpfung und seinen Anordnungen;
5. das Imamat und seine permanente Führung, die der islamischen Revolution
Kontinuität verleiht;
6. Würde und Wert des Menschen und seine Freiheit und gleichzeitig seine
Verantwortung gegenüber Gott"
Dieser Grundsatz, der die islamische Theokratie legitimiert, ist vor allem durch
seine 1., 2. und 5. Absätze für das staatsrechtliche Konzept der islamischen
Republik im Allgemeinen und durch den 6. Abs. für die "islamisch"
eingeschränkten Menschen- und Grundrechte im besonderen relevant.
Entscheidend ist, das in dieser Staatsgesellschaft Gottes "alleinige Souveränität"
die Legislative Funktion des Parlamentes aufhebt. Obwohl das Parlament, die
"Nationale Konsultativversammlung" (Majlis-e shura-ye melli), Organ der
Legislative sein soll, wird die Gesetzgebung praktisch von dem
"Überwachungsrat" wahrgenommen. Die legislative Kompetenz der
Versammlung, für die keine Fraktionsbildung, sondern nur Fachausschüsse
vorgesehen wurden, wird durch Art. 72 eingeschränkt: Die Kammer kann keine
Gesetze erlassen, die der Verfassung und den islamischen Geboten entsprechend
der offiziellen religiösen Rechtsschule des Landes widersprechen. Die
Entscheidung über eine solche Unvereinbarkeit trifft nach Grundsatz 96 der
"Überwachungsrat" (shura-ye negahban). Als eine Art islamische
verfassungsgerichtliche Institution prüft der Rat alle Beschlüsse des
"Parlaments", ohne daß es – im Unterschied zum Verfassungsentwurf - eines
gesonderten Antrages auf "Normenkontrolle" bedürfte. Das Parlament ist
verpflichtet, alle Beschlüsse und Gesetze dem "Wächterrat" zuzuleiten. Erst
nach der Überprüfung durch den Rat erhalten die Gesetze und Verordnungen
Rechtsgültigkeit. Fällt das Urteil dieses Gremiums negativ aus, müssen die
Vorlagen vom Parlament überarbeitet werden (Grundsatz 94). Die Befugnisse
des "Überwachungsrates" gehen sogar soweit, daß seine Mitglieder in die
Parlamentsberatungen eingreifen können, um, wie es heißt, das Verfahren zu
beschleunigen (Grundsatz 96 u. 97).
Damit ist der "Überwachungsrat" neben seiner Funktionen zur Überwachung der
Referenda, der Wahl der Abgeordneten und des Staatspräsidenten, die
eigentliche Legislative. Der "Überwachungsrat" übt nicht nur eine Funktion
zwischen Verfassungsgericht und geistlicher Überwachungsinstanz aus
(Grundsatz 91). Seine Zuständigkeit ist formal so weitgehend, daß ohne
"Überwachungsrat" dem Parlament keine Befugnisse zustehen (Grundsatz 93).
Daher fehlt in der Verfassung der Ausdruck der mittelbaren Souveränität, die
demokratische Vertretungsorgane wahrnehmen, obwohl die Kompetenz des
"Parlamentes" den Verordnungs- und Gesetzgebungsbereich umfaßt. Die
mittelbare Souveränität ist Schriftgelehrten vorbehalten, die Gott repräsentieren.
Mit dem "Überwachungsrat" wird nicht nur die Souveränität des Volkes durch
die Souveränität Gottes ersetzt; mit diesem Organ monopolisiert sich die
Geistlichkeit die Definitionsmacht, was Ordnung sei, der sich als Gottes
Ordnung die Menschen zu unterwerfen haben.
2. Schriftgelehrten Herrschaft als Ausdruck des fundamentalistischen
Konzeptes von Menschen als Individuen und Gesellschaft
Mit der fundamentalen Rolle der göttlichen Offenbarung für die Gesetzgebung
ist in Gestalt des "Überwachungsrates" nicht nur die Souveränität des Volkes in
Abrede gestellt, durch dessen revolutionäre Gewalt solch eine Verfassung
überhaupt möglich war; auch das demokratische Konzept vom "autonomen
Menschen" wird durch das Konzept des unmündigen Menschen ersetzt. Mit dem
Glauben an das Imamat und seine permanente Führung gern. § 2, Abs. 5 wird
die absolute Machtposition der Geistlichkeit in Gestalt des "Führers" (rahbar) als
die höchste Autorität des Landes festgeschrieben, dem jeder Mensch zur
unbedingten Gefolgschaft verpflichtet ist.
Mit dem § 2, Abs. 5 wird die "Islamische Führerschaft' (valajat-e Faqih) bzw.
der islamische Führer, wie sie Synonym in der Verfassung vorkommen, in
seiner Machtposition vom Anspruch des 12. Imams auf die Führung der
islamischen Gemeinschaft abgeleitet. Die Verfassung entspricht in diesem Punkt
der von Aj. Chomeini und anderen schiitisch-fundamentaiistischen Geistlichen
vertretenen Ansicht, daß die Gläubigen unbedingt geleitet werden müssen, weil
sie unmündig seien. 2
Nach dieser fundamentalistischen Interpretation der shiitischen Staatslehre der
klassischen Zeit steht die faktische politische Herrschaft - und die religiöse
Leitung der Gemeinde nur einem leiblichen Nachfahren des Propheten zu. Da
der zwölfte aus der genealogischen Kette der Imame, Muhammad al-Mahdi, 873
n. Ch. verschwand, riß die Reihe ab. Nach shiitischer Auffassung ist er nicht tot,
sondern entrückt in der "großen Verborgenheit'. Seine Wiederkehr wird
erwartet; bis dahin obliegt die Führung der Gemeinde einem islamischen
Theologen und Rechtsexperten (faqih). Diese Position bezieht nun auch
Grundsatz 5 der Verfassung: "Während der Verborgenheit des Mahdi (Vali-ye
asr) ... obliegt in der Islamischen Republik Iran die Verwaltung der
Staatsgeschäfte und die Führung der Gemeinde (valayat-e amr va valayat-e
ummat) einem Theologen (Faqih), der gut beleumdet (adel) und tugendhaft ist,
die Erfordernisse der Zeit kennt, der mutig ... ist und von der Mehrheit des
Volkes anerkannt wird."
Damit wird der "Faqih" nicht ausdrücklich vom Volk gewählt sondern nur
anerkannt. im Idealfall bleibt er lebenslang im Amt, ohne "demokratische
Kontrolle" durch regelmäßige Wahlen. Mit der Anerkennung wird auch formal
die göttliche Souveränität über die des Volkes gestellt. Durch die Reservierung
des höchsten Staatsamtes für die Geistlichkeit (Grundsatz 5, 107 u. 109), ist das
Volk auch von seiner eigener Führung grundsätzlich ausgeschlossen. Darüber ob
jemand und wer die Voraussetzungen für einen Islamischen Führer" erfüllt und
besitzt, entscheidet der "Expertenrat". Der Expertenrat, der den künftigen Führer
bzw. die Kandidaten bestimmt, unterstreicht die institutionelle Entmachtung des
Volkes und des Parlamentes. Damit ist die Nachfolgeregelung im
Verfassungsorgan "Valajat-e Faqih" an eine kleine Gruppe Auserwählte
Geistliche gebunden und dem Parlament und der Exekutive entzogen (Grundsatz
108). Sichert das "Überwachungsamt" die Macht der Geistlichkeit in der
täglichen politischen Auseinandersetzungen, so erhält der "Expertenrat" das
System personell. Offiziell werden die Mitglieder des Expertenrates vom Volk
gewählt. Das demokratische Element an diesem Procedere ist allerdings stark
beschnitten, da die Voraussetzungen für diese Expertenposten von den
Theologen des ersten Überwachungsrates definiert und vom Führer ratifiziert
werden. Spätere Modifikationen obliegen der Expertenversammlung.
Der Führer hat sowohl die klassischen Prärogativen des Kalifen als auch die
Charakteristika eines Monarchen in einer herkömmlichen islamischen
konstitutionellen Monarchie. Einmal anerkannt, hat er fast ein Machtmonopol.
Der Staat wird von ihm direkt oder indirekt kontrolliert: er bestimmt die 6
Theologen des Überwachungsrates (Grundsatz 91, Satz 2), durch die er mittelbar
die Aufsicht über das Parlament erhält. Er besetzt die höchste juristische Instanz
des Landes, wodurch die Judikative an den "Führer" gebunden wird (Grundsatz
110, Satz 2); Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte (Grundsatz 110, Satz 3,
a,b,d,), wodurch die Mittel der physischen Gewaltanwendung und -Androhung
monopolisiert sind. Seine "Pflicht' ist es, im obersten Nationalen
Verteidigungsrat die Aktionen aller Einheiten zu koordinieren und die
Befehlsgewalt auszuüben. (Grundsatz 110, Satz 3, c). Er erklärt (auf Vorschlag
des obersten Verteidigungsrates) Krieg und Frieden (Grundsatz 110, e). Neben
Judikative und Legislative gebietet er mittelbar auch die Exekutive. Er bestätigt
den Staatspräsidenten nach der Wahl durch das Volk oder setzt ihn wieder ab,
allerdings nach einem Spruch des obersten Gerichtshofes oder nach
Abstimmung durch das Parlament (Grundsatz 110, Satz 4, u. 5); er hat das Recht
der Begnadigung oder Strafmilderung (Grundsatz 110, Satz 6). Das einzige
mittelbare Kontrollorgan über den Islamischen Führer" ist also der Expertenrat,
der über seine Amtsunfähigkeit bzw. über den Bestand der moralischen
Qualitäten des "Faqih" entscheidet. Der Expertenrat hat als einzige Institution
die Befugnis, den "islamischen Führer" abzusetzen.
3. Der Iranischen Verfassung fehlt die Tendenz, die Rechte der Bürger
gegen den Staat abzusichern
Konsequenter Weise fehlt der iranischen Verfassung die Tendenz, die Rechte
der Bürger gegen den Staat abzusichern, wie sie für Verfassungen in der
Nachfolge des Liberalismus typisch ist. Sie versteht sich eher als eine
schriftliche Fixierung längst vorgegebener göttlicher Gesetze und aus diesen
abgeleiteter Regelungen für die Gestaltung des Lebens im Staate sowie als
Zukunftsprogramm. (Tellenbach, S. 262). Zwar findet sich auch ein Katalog von
"Grundrechten" in der Verfassung der Islamischen Republik". Diese hat im
übrigen einen Großteil derartigen Rechte mit wenigen Abänderungen in der
Formulierung schon aus der vorrevolutionären Verfassung übernommen. Sie
sind aber nicht nur gesetzlich eingeschränkt, sondern auch durch die islamischen
Gebote und die Scharia. Daher sind Grundrechte in der "islamischen Republik"
keine Rechte, an denen die Gewalt des Staates endet; solche Rechte sind
scheinbar in einem Gottesstaat undenkbar (Tellenbach, 266). Denn diese
Staatsgesellschaft glaubt gern. § 2, Abs. 6 an die "Verantwortung gegenüber
Gott", die der "Würde und Wert des Menschen und seiner Freiheit" jene, durch
die Geistlichkeit bestimmbare, Grenzen setzt.
II. Zur Soziogenese und Psychogenese des "Islamischen Fundamentalismus"
Angesicht der Tatsache, daß eine erfolgreiche Revolution, das Ergebnis einer
veränderten Machtbalance zwischen der Regierung und den Regierten ist, stellt
sich die Frage, warum die ehemaligen Außenseiter die eroberte Macht freiwillig
einer religiösen Elite aushändigen, die sie ausdrücklich als unmündig erklärt.
Mit anderen Worten: welche sind die Soziogenese und Psychogenese des
"Islamischen Fundamentalismus", das zu einer institutionellen
Entdemokratiserung der sozialen Kontrolle führt und zwar angesichts einer
funktionalen Demokratisierung als Ergebnis der "Modernisierung"
1. Zur funktionalen Demokratisierung als Funktion sozialer Differenzierung
Einer der zentralen Aspekte der "Modernisierung" ist eine soziale
Differenzierung, die mit entsprechenden Desintegrationsprozessen und sozialen
Auf- und Abstiegsprozessen einhergeht. Diese Prozesse wurden realtypisch
anhand der Untersuchung der iranischen Modernisierung auch festgestellt
(vergl. Gholamasad, 1985). Als Funktion der Kommerzialisierung (vor allem
des Grund und Bodens im Zuge der Landreform), der Industrialisierung (und der
damit einhergehenden zunächst formellen Subsumtion der Arbeitskraft unter das
Kapital) sowie der Säkularisierung des Erziehungs- und Rechtswesens (die zur
tendenziellen Entfunktionalisierung der Geistlichkeit als früherem
Funktionsträger in diesen Bereichen führt) geht in der Regel eine soziale
Differenzierung einher, die mit der Desintegration des agrarischen und tribalen
Gemeinwesens nicht nur zu einem wahrnehmbaren Schub der Urbanisierung
und einer Hypertrophie des tertiären Sektors der "Dritten Welt" führte; in den
islamisch geprägten Gesellschaften führte sie zudem nicht nur zu einer
funktionalen Demokratisierung sondern auch zu einer, von den Betroffenen als
moralisches Chaos wahrgenommenen, längeren anomischen Phase der
Gesellschaft.
Was sich an der empirischen Untersuchung der iranischen Entwicklung
bestätigen und verallgemeinern läßt ist: Im Laufe dieser
Gesellschaftsentwicklung in Richtung einer zunehmenden Differenzierung und
Spezialisierung der gesellschaftlichen Positionen und Funktionen verändert sich
in der Regel auch die Art und der Grad der Abhängigkeiten zwischen den
Menschen. Durch die fortschreitende Funktionsteilung werden die
Interdependenzketten, die Menschen aneinander binden, immer länger. Dadurch
wird der einzelne aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Funktion zur
Befriedigung existentieller Bedürfnisse auf immer mehr Menschen angewiesen.
Die Veränderung der Abhängigkeiten in diese Richtung bedeutet eine
Verringerung der Machtdifferentiale zwischen unterschiedlichen sozialen
Schichten und Gruppen der Gesellschaft, solange sie in den sich ständig
wandelnden Funktionskreislauf dieser Gesellschaft miteinbezogen sind. Mit
dieser spezifischen Verlagerung der Machtgewichte verändern sich in der Regel
nicht nur die Verhältnisse zwischen Eltern und Kinder, Männer und Frauen,
verschiedenen ethnischen Gruppen sowie sonstigen sozialen Formationen. Auch
die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Regierten und Regierenden veränderten
sich. Die Regierenden, jene Gruppe, die den Zugang zu den in der Gesellschaft
vorhandenen Machtchancen und die Verfügung über diese besitzt, werden
immer abhängiger von den Außenseitergruppen, die vom Zugang zu diesen
Machtchancen ausgeschlossen sind.
Diese Veränderungen der Machtstrukturen wird als funktionale bzw. latente
Demokratisierung bezeichnet (Elias, 1986, S. 70/72). Dies bedeutet, daß sich
zwar eine Verringerung der Machtdifferentiale real vollzieht, sie jedoch im
Bewußtsein der Menschen noch nicht vorhanden sein muß und sich institutionell
noch nicht niedergeschlagen hat.
2. Der Fundamentalismus als Nachhinkeffekt des sozialen Habitus
Damit begegnen wir einer Konstellation, in der die Dynamik ungeplanter
sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in Richtung auf eine andere
treibt, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer
Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf jener früheren Stufe
verharren (Elias, 1987a, S. 281). Die gemeinsame gesellschaftliche Ausprägung
des individuellen Verhaltens, der Sprache und Denkweise, der Gefühlslage und
vor allem der Gewissens- und Idealbildung - kurz: das Grundschema der
Persönlichkeit - verändert sich im Vergleich zur relativ rapiden sozialen
Differenzierung relativ langsamer.
Die Loyalitäts- sowie Generations- und geschlechtsspezifischen Konflikte sind
als "Übergangskonflikte" ebenso Ausdruck solchen Nachhinkeffekts des
sozialen Habitus wie romantische bzw. fundamentalistische Bewegungen. Sie
sind Folge eines "Doppelbinderprozesses" mit entsprechenden
Abwehrmechanismen.
Entscheidend für die weitere Richtung der Entwicklung ist u.a., inwiefern der
neu entstandene Funktionszusammenhang als eine Integrationseinheit fungieren
kann, inwiefern sie die materiellen und emotionalen Bedürfnisse der betroffenen
Menschen befriedigen und somit als neues Identifizierungsobjekt dienen kann.
Wenn also die bisherigen Außenseiter, die bisherigen Machtschwächeren nicht
angemessen an der Verfügung über die vorhandenen Machtchancen beteiligt
werden oder ihnen zumindest keine entsprechende Konzessionen gemacht
werden, können die Integrierungsspannungen und -konflikte eskalieren. Je
kleiner aber die - mit der sozialen Differenzierung einhergehenden
Machtdifferentiale werden, desto deutlicher treten die nichtökonomischen
Aspekte der Spannungen und Konflikt ans Licht; es bedeutet, daß nicht mehr
vorwiegend die Verteilung von Produktions- und Konsumtionsmittel sondern
auch die Verfügung über "symbolisches Kapital" die Fragen der
gesellschaftlichen Definitionsmacht im Mittelpunkt sozialer
Auseinandersetzungen rücken. Die relative Verringerung der Machtdifferentiale
steigert außerdem die Intensität und Heftigkeit der offenen Konflikte.
Aus einer derartigen Konstellation heraus kann eine soziale Bewegung von
Menschen entstehen, die zwar die technischen und ökonomischen Vorteile der
Modernisierung befürworten, aber die damit verbundenen notwendigen
Veränderungen des sozialen Habitus nicht verkraften können. Diese Bewegung
schöpft zwar ihre zunehmende Macht aus der sozialen Dynamik, die zu einer
latenten Demokratisierung der Gesellschaft führt, sie sieht aber die "normative
Zielfunktion" der sich entwickelnden Staatsgesellschaft in einer institutionellen
Entdemokratisierung der sozialen Kontrolle. Statt "Pluralismus" als
Vervielfältigung institutioneller Multipluralität der Kontrolle strebt diese
Bewegung einen "Ideen- und Gruppenmonismus" an, der die relativ geringe
Konflikt- und Konsensfähigkeit der sie tragenden sozialen Gruppen manifestiert.
Dieser "Ideen- und Gruppenmonismus" kann jedoch unterschiedliche
chiliastische Artikulationsformen annehmen (Gholamasad, 559 ff.). Was sie alle
gemeinsam teilen, ist Ihre Ablehnung einer "pluralistischen Gesellschaft", als
eines bestimmten Arrangements der Institutionen, die sich gegenseitig oder die
Regierung kontrollieren können. Als eine kollektive Aufbruchsbereitschaft zur
Herstellung eines paradiesischen Glückszustandes der Menschheit bzw. als eine
dadurch entfesselte Bewegung ist der Chiliasmus (Mühlmann, 1964) Ausdruck
der gesamten Gegenschübe der funktionalen Demokratisierung, der eine
islamische Artikulationsform ebenso annehmen kann, wie eine christliche,
marxistisch-leninistische oder auch eine nationalsozialistische.
Die Besonderheit ihrer Artikulationsformen, die ihren Nativismus (Mühlmann,
1964) als eine demonstrative Hervorhebung ihrer als eigen definierten Werte
manifestiert, ist jedoch Funktion des Beziehungsschicksals ihres jeweiligen
sozialen Trägers. Als ein idealisiertes Phantasiebild der eigenen Verdienste, der
eigenen Sendung und der eigenen Überlegenheit über andere Nationen, für die
es sich lohnt zu kämpfen und zu sterben, bekommt dieser vom Chiliasmus
getragene Nativismus die Gestalt einer Glaubensvorstellung und verleiht jedem
individuellen Mitglied solch einer Bewegung ein stolzes Wir-, Gefühl.
Der vom shi'itischen Chiliasmus getragene Fundamentalismus ist also eine der
möglichen Artikulationsformen des Gruppen-Charismas der stigmatisierten
sozialen Gruppen, die Träger einer "antiimperialistischen" Bewegung werden.
Er ist Ausdruck des Umschlages eines kollektiven Trauerns der Außenseiter in
ihren Hegemonialrausch.
Als eine solche Bewegung, die den Verhaltenskanon einer alten Führungsgruppe
als "Kultur" und "Tradition" idealisiert und zu Gottes unveränderbarem Gesetz
(Shari'a) hypostasiert, dominiert sie über die komplementären sozialen Prozesse
einer funktionalen Demokratisierung. Dies ist nur möglich, weil sich die
Balance zwischen struktureller Veränderung und Kontinuität der Verhaltensund
Empfindensmuster verschiebt zugunsten der Kontinuität einer als
habitualisierten Verhaltensvorschriften - vertrauten Schicht des sozialen Habitus
der sie tragenden Menschen. Diese vertraute Schicht ihres sozialen Habitus
idealisieren sie als "Islam", dem als Gottes unveränderbares Gebot ewige
Gültigkeit zukommt.
Von diesen Menschen werden diese Gebote und Verbote als ein spezifischer
Typus einer selbstauferlegten Regulierung menschlichen Verhaltens und
menschlicher Beziehungen affektiv stärker besetzt. Indem sie durch ein ihnen
vermitteltes tugendhaftes Geborgenheitsgefühl sowie durch ein Gefühl der
Freude und Selbstzufriedenheit ihre als Funktion ihrer Außenseiterposition
entstandenen "Minderwertigkeitsgefühle" zu überwinden hilft und ihnen ein
persönliches Ideal einer individuellen Sinnerfüllung verleiht, werden diese
Gebote zum Ich-Ideal dieser Menschen. Sie treten so ins Zentrum ihres
Selbstbildes, ihrer sozialen Glaubensdoktrin und ihrer Wertskala und führen als
Objekt ihrer gemeinsamen Identifizierung zu ihrer Gruppenkohäsion und
werden damit zu einer zusätzlichen Machtquelle.
Für diese Menschen übernehmen diese idealisierten und mit Fremdzwängen
ausgestatteten Gebote verstärkter als zuvor die gesamte Gewissensfunktion, weil
ihre Selbstzwangsinstanzen, in Relation zu der aus der sozialen Dynamik
resultierenden Veränderung der Art und Weise, wie die Menschengruppen
aneinander gebunden sind, relativ triebdurchlässig, gebrechlich, labil und
weniger autonom sind. Ihre nachhinkenden Selbstzwänge bedürfen in dieser
Lage scheinbar einer ständigen Unterstützung und Verstärkung durch
Fremdzwänge.
Überfordert durch die realen Zwänge - sowohl der eigenen und
nichtmenschlichen Naturgewalten als auch der anderer Gesellschaftsmitglieder
und als feindlich empfundenen Gruppen - , die sich durch die strukturelle
Veränderung funktionaler Interdependenzen ergeben, flüchten sie in die
"Zwänge der Phantasie", um den Abbau ihrer eigenen unerträglich
erscheinenden Spannungen, d.h. den Konflikt zwischen den als Selbstzwänge
angezüchteten gesellschaftlichen Geboten und Verboten und den
zurückzuhaltenden spontanen Handlungsimpulsen (Elias, 1987a, S.168), im
Sinne einer "Heilssicherung" zur "normativen Zielfunktion" ihres Staates zu
machen. Getrieben von diesem Phantasiebezug erstürmen sie die Staatsmacht,
um sie nach der Eroberung einer religiösen Elite zur Verfügung zu stellen, die
sie selbst ausdrücklich für unmündig erklärt und die im Namen Gottes
auszuübende Macht ausschließlich als ihr Monopol beansprucht.
Die Grundlage der Akzeptanz der Ersetzung der Volkssouveränität durch die
Souveränität Gottes, dessen Gebote "weise und gerechte Rechtsgelehrte" als
geltendes Recht auslegen und sanktionieren, ist die indirekte Anerkennung der
Gebrechlichkeit der eigenen Selbstregulierung und der damit einhergehenden
Angst vor "individueller Freiheit' im Sinne der Verschiebung der Balance
zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zugunsten der letzteren. Weil diese
Menschen nicht über relativ angemessen starke und gleichmäßige
Selbststeuerungsmittel verfügen, soll die "Islamisierung" des Alltagslebens, z.B.
der weiblichen Kleiderordnung, die scheinbaren Reiz- und Spannungsquellen
verschleiern; desgleichen soll der Ideen- und Gruppenmonismus ihre durch
relativ unangemessene Distanzierungsfähigkeit ausgelöste Verunsicherung
durch den sich anbahnenden Pluralismus verhindern.
Weil sie kaum einen Zugang zu einer Erfahrungsform und einer Vorstellung
haben, die es Menschen möglich macht, sich ihrer selbst zugleich auch
außerhalb und unabhängig von der eigenen Gruppe, als einer der eigenen
Gruppe gewissermaßen gegenüberstehende Person bewußt zu werden, werden
sie nicht nur durch jeden institutionellen Ausdruck einer Verringerung der
Machtdifferentiale zwischen allen Gruppen und allen einzelnen Individuen im
Zuge der wachsenden Spezialisierung oder Differenzierung aller
gesellschaftlichen Betätigungen verunsichert. Ihre relativ geringe
Selbstdistanzierungsfähigkeit, dieses Ausmaß und Muster der
Individualisierung, manifestiert sich zudem als eine relativ weniger entwickelte
Konflikt- und Konsensfähigkeit zu einer Vorstellung vom Wesen der Politik, die
anstatt eines "täglichen Streites um das jeweils Richtige" den "Vollzug
göttlichen Willens, orientiert an der Durchsetzung der Shari'a" (Klaff, 1987, S.
47) zur Handlungsmaxime macht.
Diese institutionelle Entdemokratisierung ist nur dann verständlich, wenn man
berücksichtigt, daß jedes menschliche Verhalten gegenüber sich selbst,
gegenüber anderen Menschen und gegenüber den nicht-menschlichen
Naturprozessen nur steuerbar ist durch die sozial vermittelten und als solche
emotional verankerten Vorstellungen von sich selbst, von anderen Menschen
und von nichtmenschlichen Naturprozessen. Diese symbolischen
Repräsentanten der Realität als "soziale Apriorien" (Elias, 1989) sind mit
entsprechenden Denkweisen als gemeinsam kommunizierbare Orientierungsund
Kontrollmittel zwar einer ständigen Veränderung unterworfen, weisen aber
auch eine gewisse Kontinuität auf. Gemessen an individuellen Zeitdimensionen
erscheinen sie den Menschen entweder als unveränderbare Natur- oder göttliche
Konstante, weil und solange sie von ihnen einverleibt und zu ihrer "zweiten
Natur" geworden sind. Als "soziale Apriorien" prägen sie das individuelle
Verhalten durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen. Dieser
Sozialisierungsprozeß ist aber nur möglich durch die Individualisierung dieser
Verhaltens- und Erlebensmuster: als Bedingung der Möglichkeit der
Reproduktion bzw. als Grundmechanismus der relativen Stabilisierung der
menschlichen Gesellschaft.
Der Überlebenswert dieser gesellschaftlichen Prägung individuellen Verhaltens
und Erlebens liegt jedoch in einer angemessenen Balance zwischen
Veränderung und Kontinuität der Verhaltens- und Erlebensmuster. Die relative
Kontinuität dieser Muster verliert als ein rigider "Wiederholungszwang" ihre
sich aus der natürlichen Konstitutionsbedingung der menschlichen Gesellschaft
erworbene lebenserhaltende Funktion, wenn die Wandlung dieser Muster der
unbeabsichtigten Dynamik der sozialen Entwicklung zu sehr nachhinkt und so
zu Verhaltensund Empfindungsfehlsteuerungen führt. Als unangemessenes
Reaktionsmuster ist dann der soziale Habitus verantwortlich für eine
unkontrollierbare Dynamik sozialer Prozesse und damit für die Erhöhung der
menschlichen Unsicherheit gegenüber der "Natur", gegenüber sich selbst und
gegenüber sozialen Prozessen.
Mit dieser Verunsicherung steigt erneut der Grad des Engagements, der mit
einem erneuten Grad der affekt- und triebgesteuerten Wahrnehmung zu einer
Eskalation des "Doppelbinderprozesses" bzw. "des Teufelskreises" mit
entsprechenden Wunsch- und Furchtbildern beiträgt.
Die Re-Islamisierung ist in diesem Sinne Symptom für eine solche, aus dieser
Doppelbinderfiguration resultierende Mentalität. Als eine Art Revivalismus
bzw. Revitalisierung früherer Schichten des sozialen Habitus ist diese
Persönlichkeitsstruktur, diese Glaubensund Werthaltung und Affektlage u.s.w.
Funktion einer "Modernisierung", die als eine wachstumsorientierte
ökonomische Entwicklung zur Desintegration früherer Integrationseinheiten,
z.B. Stämme, Sippen, Großfamilien, Dörfer u.s.w. und damit einhergehenden
traumatischen sozialen Auf- und Abstiegsprozessen führt, ohne die Erfahrung
der aus diesen Zusammenhängen entrissenen Menschen angemessen
transformieren zu können. Die mit dieser sozialen Entbindung einhergehende
"Entwurzelung" der Menschen führte also nicht notwendig und gleichzeitig zu
weiteren Individualisierungsschüben, d.h. zu Verschiebung ihrer Wir-Ich-
Balance zugunsten einer stärkeren Betonung der Ich-Identität der einzelnen
Menschen und einer damit einhergehenden Verschiebung der Balance ihrer Wir-
Bezüge im Sinne einer emotionaler Loslösung von den überlieferten Verbänden
und Verlängerung der Reichweite ihrer Identifikation mit anderen Menschen
unabhängig von ihrer ethnischen oder konfessionellen Zugehörigkeit.
Eine wesentliche Rolle dabei hätten mögliche geregelte Mittel und Wege der
Artikulation spielen können, die entsprechend innergesellschaftliche
Unabgestimmtheiten vermittelt hätten. Sie wären möglicherweise in der Lage,
das Mißverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Ausrichtung des
individuellen Strebens und den gesellschaftlichen Möglichkeiten seiner
Erfüllung reduzieren und die als moralischen Chaos wahrgenommene Trennung
von "Individuum" und "Gesellschaft" bzw. vom Einzelnen und einer sich
verstaatlichenden sozialen Großeinheit versöhnen und verbinden helfen.
Die sich selbst zusätzlich aus dem Ost-West-Konflikt speisenden
Integrierungsspannungen und -Konflikte, die neben "ökonomischen" vor allem
Habitusprobleme waren, führten zur massiven Unterdrückung solchermaßen
sich herausbildender demokratischer Institutionen wie staatlich weniger
gegängelter Presse, Gewerkschaften, sonstige Verbände und politische Parteien,
anstatt zu einer Herausbildung entsprechender Mittel und Wege der
gesellschaftlichen Kommunikation und Koordination. Als partikulare
interessenvertretende und koordinierende Organe hätte sie nicht nur soziale
Aufstiegsfunktionen für die beteiligten Menschen spielen können; sie hatten
auch als Ordnungsfaktoren gesamtgesellschaftliche Erhaltungsfunktionen
übernehmen können.
Ihre Erhaltungsfunktion bestünde vor allem in einer sozial angemesseneren
Sozialisierung der "entwurzelten" Menschen, indem sie ihre Desorientierung
durch angemessenere Repräsentanten der Realität ersetzte und sie sozial
angemessener integrierte.
Ohne solche institutionelle Formen der Partizipation werden die für die neuen
Beziehungen erforderlichen Einstellungen bzw. Verhaltensund Erlebensmuster
entweder überhaupt nicht angeeignet oder sie bleiben oberflächlich, bilden eine
emotional nicht tief genug verankerte Schicht des sozialen Habitus bzw. der
Persönlichkeit.
Ohne eine stärkere und stabilere Differenzierung des Seelenhaushalts durch
welche die unmittelbar nach außen gerichteten psychischen Funktionen den
Charakter eines relativ trieb- und affektfreieren, eines "rationaler"
funktionierenden Bewußtseins annehmen könnten (vergl. Elias, 1976), handelt
der " entwurzelte" Mensch, dem nur frühere Schichten seines sozialen Habitus
als Repräsentanten früherer Integrationsstufen bzw. früherer Führungsschichten
zur Verfügung stehen, relativ desorientiert.
Verunsichert durch die sozialen Wandlungsprozesse, die ihn vor immer neue
Herausforderungen stellen, ist er für sein Überleben in seiner neuen sozialen
Funktion und Position unbedingt auf die zuverlässige, unlustvermeidende
Übernahme und Wiederholung bestimmter sozialer Verhaltensnormen
angewiesen, die sich ihm in Gestalt der ihm vertrauten und seit Ewigkeiten als
gültig erscheinenden Verhaltensvorschriften und Glaubenssysteme und/oder in
Gestalt "charismatischer Persönlichkeiten" als lebendiges Vorbild idealisiert
anbieten.
Durch die narzißtischen Verschmelzungsphantasien solchermaßen
"entwurzelter" Menschen erhalten Glaubenssysteme wie "der" Islam und
charismatische Führerpersönlichkeiten (z.B. Aj. Chomeini) ihre Macht, d.h. ihre
gesellschaftlichen Chancen der Verhaltenssteuerung.
So kann die etwa als "der" Islam idealisierte frühere Schicht des sozialen
Habitus der weniger individualisierten Menschen zum "Zentrum und Kernstück
des Staates" (R. Klaff, S. 23) erhoben werden, während deren Personifizierung
zum uneingeschränkten bzw. absoluten Herrscher aufsteigt.
Die charismatischen Führerpersönlichkeiten solcher sozialer Bewegungen
rekrutieren sich in der Regel aus dem Kreis jener Menschen, die neben
plagenden Habitusprobleme außerdem aufgrund ihrer schmerzhaften Erfahrung
der sozialen Entfunktionalisierung und Entwertung und damit einhergehendem
relativem Macht- und Prestigeverlust der realen Entwicklung der Gesellschaft
massiven Widerstand entgegensetzen. Die Kerntruppe solcher Führer teilt trotz
einer möglichen ökonomischen Partizipation an der Modernisierung ähnliche
Erfahrungen und Ideale, die durch massenhafte Identifizierung einen
Massencharakter erhalten.
Die massenhafte Identifizierung konstituiert einen charismatischen Typ von
Herrschaft, der sich als ein Aufstiegstyp der Herrschaft in der Regel aus der sich
aus dem Nachhinkeffekt ergebenden Krise speist.
Aus diesem Grund trachtet solcher, jeglicher demokratischen Institution
gegenüber feindlich eingestellte Typ der Herrschaft nicht nur danach, das
staatliche Regelnetz, sondern auch das gesamte Alltagsleben zu kontrollieren
bzw. zu "islamisieren".
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Anmerkungen :
1 Als im Iran der zum Referendum stehende Name der neuen Republik zur Diskussion stand, sprach sich Aj. Khomeini eindeutig für "Islamische Republik" aus. Er erklärte: "Ich stimme für 'Islamische Republik', nicht ein Wort mehr, nicht ein Wort weniger." Und: "Jeder, der sich für ''Republik'' (ohne den Zusatz islamisch) entscheidet, ist ein Feind des Islam. Jeder, der (dem Begriff) ''Islamische Republik'' den Begriff ''demokratisch'' hinzufügt, ist ein Feind des Islam ... Er will nicht den Islam. Wir aber wollen den Islam"
(Zitiert nach Vorwort zur deutschen Ausgabe von Aj. Khomeini, S. 10 f).
2 "Die Statthalterschaft des Faghih ist eine relative Angelegenheit, sie wird durch Ernennung übertragen, ein Akt, der vergleichbar ist mit der Ernennung eines Vormundes für Minderjährige. Vom Standpunkt der Aufgabe und der Stellung besteht kein Unterschied zwischen dem Vormund der Nation und einem Vormund für Minderjährige."
(Aj. Khomeini, S.61)
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Literatur :
Ajatollah Khomeini: Der islamische Staat, Berlin, 1983
Barreau, J.-C.: Die unerbittlichen Erlöser, Reinbek bei Hamburg, 1992
Binswanger, K.: Das Selbstverständnis der Islamischen Republik Iran im
Spiegel ihrer neuen Verfassung; in: Orient, 21, 1980, S. 320ff
Botschaft der Islamischen Republik Iran (Hg): Verfassung der Islamischen
Republik Iran, Bonn 1980
Elias, N.: 1987a: Die Gesellschaft der Individuen, Ffm. 1987a
Elias, N.: Engagement und Distanzierung, Ffm. 1987b
Elias, N. Sociology of Knowledge: New Perspectives, in: "Sociology", 1971, V,
Nr. 2, S. 149-168 und Nr. 3 , S. 355-370
Elias, N.: The Symboltheorie, in: Theory, Culture & Society, voll. 6, Nr. 2, Mai
1989, S. 169-216 sowie Nr. 3, August 1989, S. 339-386 und Nr. 4, Nov. 1989, S.
499-537
Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Ffm. 1976
Elias, N.: Die höfische Gesellschaft, Frankfurt/M, 1983
Elias, N.: Was ist Soziologie, Weinheim, München, 1986, 5. Auflage
Elias, N.: Über Menschen und ihre Emotionen: Ein Beitrag zur Evolution der
Gesellschaft; in: Semiotik, Bd. 12, H. 4, 1990, 337 ff.
Elias, N./Scotson, J. L.: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M., 1990
Freud, S.: Massenpsychologie und Ichanalyse, in: Sigmund Freud
Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt, 1974
Gholamasad, D.: Iran: Die Entstehung der "Islamischen Revolution", Hamburg
1985
Klaff, R.: Islam und Demokratie, Ffm. Bern, N.Y., Paris, 1987
Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie, Opladen, 1983
Mühlmann, W. E. et al.: Chiliasmus und Nativismus, Berlin 1961, 2. Auflage
1964
Shirazi, A.: Die Widersprüche in der Verfassung der Islamischen Republik vor
dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung im nachrevolutionären
Iran, Berlin, 1992
Tellenbach, S.: Untersuchungen zur Verfassung der Islamischen Republik Iran
vom 15. November 1979, Berlin 1985